Autisten sind die ehrlicheren Menschen – und deswegen oft einsam

Der Teenager trug ein T-Shirt mit einem Fluchwort. Er fand das cool. Sein autistischer Kollege fand das bloss doof, und das sagte er ihm auch. Denn man benutzt keine Schimpfwörter.
Dass es unter Teenagern zu einem guten Ruf beitragen kann, wenn man frech ist und gerade nicht tut, was man soll, das leuchtet Menschen mit der Autismus-Spektrum-Störung oft nicht ein.

 

Zu dieser Entwicklungsstörung des Gehirns gehört, dass die Betroffenen zwischenmenschliche Regeln schlecht interpretieren können und in ungewohnten Situationen schnell überfordert sind. Auch Asperger gehört dazu. Es ist eine milde Form des Autismus und das, was die inzwischen weltbekannte Klimakämpferin Greta Thunberg hat.

Die Situation mit dem T-Shirt-Fluchwort hat Fabienne Serna kürzlich miterlebt. Sie arbeitet für die Beratungsstelle Autismus Deutsche Schweiz. «Der Junge hat in diesem Moment keine Sekunde bedacht, dass das eine negative soziale Konsequenz hat, wenn er seine Meinung geradeheraus kundtut», sagt Serna. Solche Mechanismen müssen Autisten mühsam auswendig lernen, was schwierig ist: Seinen Eltern soll und darf man persönliche Dinge erzählen, aber Fremden eher nicht? Für Autisten ergibt das keinen Sinn. Mit der Direktheit eines kleinen Kindes können sie auch einem Raucher sagen, was er tue, sei dumm, weil ungesund.

Die Ehrlichkeit macht sie einsam

Diese blanke Ehrlichkeit und die Unfähigkeit, soziale Regeln zu decodieren, isoliert viele Menschen mit Autismus – gerade Teenager, die normalerweise viel Gewicht auf die Meinung ihrer Peergroup legen. Greta Thunberg aber engagiert sich nicht fürs Klima, weil dies gerade hip ist und sie auf der Öko-Welle surft. Sondern weil das ihr Anliegen ist. Auch das ist ein Merkmal von Autismus: Die Betroffenen spezialisieren sich oft auf gewisse Gebiete. Denn das verschafft ihnen mehr Sicherheit als immer wieder neue Felder zu betreten.

In ihren Spezialgebieten können diese Menschen manchmal brillieren – jedenfalls wenn sie durch ihre Störung nicht so sehr eingeschränkt sind, dass sie nicht sprechen können oder auch intellektuelle Defizite haben. Auch unter den sozialen Defiziten leiden Autisten: «Einsamkeit ist eine traurige und häufige Begleiterscheinung von Autismus», sagt Fabienne Serna.

Eine Studie, die heute veröffentlicht wird, zeigt jedoch einen weiteren positiven Aspekt: Autistische Kinder lassen sich weniger dreinreden. Sie halten an ihrer Meinung fest, auch wenn jemand sie zu beeinflussen versucht. Die britische Neurowissenschafterin Kristine Krug hat dies zusammen mit ihren Kollegen im Experiment untersucht: 125 normale und 30 autistische Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren spielten ein Computerspiel, bei dem sie ein Raumschiff um schwarze Löcher herum navigieren mussten. Teilweise bekamen sie Ratschläge von Erwachsenen oder Gleichaltrigen, sie sollten mehr nach rechts oder links steuern.

Die kleineren autistischen Kinder liessen sich dabei noch leicht von (falschen) Ratschlägen beeinflussen, aber im Alter von 12 bis 14 war dies kaum mehr der Fall. Ganz anders bei den neurologisch normalen 12- bis 14-Jährigen: Sie liessen sie sich in ihren Entscheidungen besonders stark beeinflussen.

 

Aussergewöhnliche Personen

Die Studienautoren schreiben, dieser Befund passe zu früheren Forschungserkenntnissen, dass Autisten soziale Informationen weniger gewichten. Ausserdem seien sie weniger sensibel, was ihr Ansehen betreffe, und auch weniger empfänglich für Schmeichelei. Zusammen mit der Autisten eigenen Hartnäckigkeit bringen diese Eigenschaften immer wieder aussergewöhnliche Persönlichkeiten hervor. Nicht nur Greta Thunberg.

Die autistische amerikanische Tierwissenschafterin Temple Grandin hat Methoden und Maschinen entwickelt, um die Schlachtung von Nutztieren möglichst schonend durchzuführen. Dies, weil sie auf stressige Elemente ähnlich sensibel reagiert wie die Tiere. Ihr Autismus half ihr aber auch, sich unabhängig vom emotionalen, blutigen Thema in die Tiere hineinzuversetzen und so Beruhigungsmethoden zu entwickeln.

Eine ähnliche Qualität wie Temple Grandin besitzt die ebenfalls autistische amerikanische Schauspielerin und Umweltaktivistin Daryl Hannah. Der Filmstar der Achtziger («Blade Runner») fiel in der Vergangenheit immer wieder durch ihre Unbeirrbarkeit auf. Als sie den Abriss einer Farm verhindern wollte, kettete sie sich beispielsweise an einen Baum – ein anderes Mal wurde sie verhaftet, weil sie vor dem Weissen Haus gegen Kohleabbau in den Bergen protestierte und erst stoppte, als die Polizei sie in Handschellen wegführte. Die Amerikanerin ist ein Vorbild in puncto Konsequenz: Anders als ihre Schauspielkollegen liess sie sich nicht vom verschwenderischen Hollywood-Lifestyle verführen. Sie lebt in einem Solarstrom-Haus, fährt ein Biodieselauto und lebt komplett vegan.

Auch Konsequenz und Schwarz-weiss-Denken gehören zum Autismus. Fabienne Serna sagt, sie kenne einige Autisten, die sich sehr konsequent gesund ernährten: «Wenn sie wissen, dass Zucker ungesund ist, dann verzichten sie auf Kuchen und mag das Stück noch so klein sein. Es spielt auch keine Rolle, ob alle anderen davon essen», so Serna.

Die Hartnäckigkeit lässt Autisten bisweilen ihre eigenen Grenzen überschreiten. «Greta Thunberg war nach ihrer Reise ans WEF bestimmt erschöpft», sagt Serna, «aber wenn es um ihre Spezialgebiete geht, sind Menschen mit der Autismus-Spektrums-Störung nicht selten bereit, Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen.»