
Badener Chef-Chirurg: «Wir fragen uns im Moment häufiger: Haben wir noch einen Platz, wenn ein Notfall kommt?»
Das Kantonsspital Baden (KSB) verfügt auf seiner Intensivstation über zehn Plätze. Diese zehn Betten sind – wie in allen Spitälern – auf die Operationskapazitäten des Spitals abgestimmt. Das heisst: Normalerweise reichen sie, um Patientinnen und Patienten nach einer geplanten oder notfallmässigen Operation intensivmedizinisch zu betreuen. Seit Corona ist es anders: Die Pandemie hat das Gefüge aus dem Lot gebracht.
Letzte Woche hat das KSB ein zusätzliches Bett explizit für Nicht-Covid-Patienten in Betrieb genommen. Das ist zwar ein Puffer für dringende Fälle. Aber die Lage entschärfen konnte auch dieses zusätzliche Bett nur bedingt.
Im Moment liegen in acht der elf Betten Covid-19-Patienten. «Uns stehen also anstatt zehn nur noch drei Betten für Nicht-Covid-Patienten zur Verfügung. Damit müssen wir auskommen», sagt Antonio Nocito, Chefarzt Chirurgie am KSB. Er sagt es feststellend. Jammern will er nicht. Auch wenn die Situation alles andere als normal ist. Die grösste Herausforderung sei im Moment die Notfallmedizin.
Antonio Nocito macht ein Beispiel: «Wenn ein 80-Jähriger notfallmässig mit einem Loch im Dickdarm eingeliefert wird und er vielleicht noch Vorerkrankungen hat, dann kann ich als Chirurg nicht einfach das Loch flicken und den Patienten nach Hause entlassen. Ich muss davon ausgehen, dass er nach dem Eingriff eine Betreuung auf der IPS benötigt.»
Hat es kein Bett, wird nicht operiert
Bevor er also den Operationssaal reserviert und das OP-Team aufbietet, muss er wissen, ob die Kolleginnen und Kollegen den Patienten danach auf der Intensivstation pflegen können. «Ohne diese Zusicherung kann ich nicht operieren.» Das gilt unabhängig von Corona und es gilt auch für alle geplanten Eingriffe, bei denen die Patienten danach intensivmedizinisch betreut werden müssen.
Aber die hohe Auslastung der Intensivstationen wegen Corona hat die Situation natürlich verschärft. «Wir fragen uns im Moment häufiger: Haben wir noch einen Platz, wenn ein Notfall kommt?», sagt Antonio Nocito. Denn anders als planbare Eingriffe können Notfälle nicht einfach verschoben werden. Es pressiert.

Gibt es kein freies Bett auf der Intensivstation, wird telefoniert. «So lange, bis ein Spital gefunden ist, das die Operation durchführen und den Patienten danach auch intensivmedizinisch betreuen kann», erklärt Antonio Nocito. Auch das ist für die Spitäler nichts Neues. Es kam auch vor Corona vor, dass Patienten verlegt werden mussten. Aber weil die Spitäler wegen Covid-19 schweizweit ausgelastet sind, könne die Suche nach einem Bett anstatt dreissig bis sechzig Minuten auch mal bis zu sechs Stunden dauern.
Weniger Patienten als in einem normalen Jahr
Nicht zu unterschätzen sind laut dem Chef-Chirurgen auch die hausinternen Möglichkeiten. «Wir prüfen laufend, ob die Patienten noch auf der richtigen Abteilung liegen. So können wir verhindern, dass ein Patient ein Intensivbett besetzt, der auch auf der Überwachungsstation behandelt werden kann.» Es komme also zu Verlagerungen, könne auch sein, dass jemand nach der Operation im Aufwachsaal anstatt auf der Überwachungsstation betreut werde.
Die Situation in einem Spital sei viel weniger starr, als man sich das vorstelle, sagt Antonio Nocito. «Manchmal verschärft oder entspannt sich die Situation innerhalb von wenigen Stunden. Das erfordert von den Mitarbeitenden ein hohes Mass an Flexibilität.»

Gleichzeitig sei es schon auch «ein glücklicher Umstand», dass gewisse Krankheitsbilder, die sich normalerweise in einem Herbst oder Winter im Spital zeigen, derzeit fehlen. Es sei nicht so, dass die zehn Intensivbetten ohne Covid-19 leer stünden.
Im Moment reichen die Ressourcen gerade noch so. Es sind immer noch alle Operationssäle in Betrieb. «Allerdings lasten wir diese nicht voll aus, weil die IPS in Baden voll ist», sagt Antonio Nocito. «Wir versuchen aber, den OP-Betrieb so gut wie möglich im Normalbetrieb zu halten.»
Ampelsystem für Operationen
Das war im April 2020 anders. Damals hatte der Bundesrat während 42 Tagen alle nicht-dringenden Operationen verboten. Im KSB wurden nur noch vier von zehn OP-Sälen betrieben. Antonio Nocito schrieb in einem Gastbeitrag in der «NZZ»: «Die Konsequenzen tragen unsere Patienten, die an Krebs-, Herz- und anderen potenziell tödlichen Krankheiten leiden. Nicht allen von ihnen können wir im Moment zeitnah helfen. Die Kapazität in den OP-Sälen reicht schlicht nicht aus.»
Um die Patientinnen und Patienten auf die wenigen Operationssäle verteilen zu können, führte das KSB damals ein Ampelsystem ein. Rot bedeutete «dringende Fälle», orange hiess «so rasch wie möglich operieren» und grün stand für «verschiebbar».
Nachdem das Verbot aufgehoben worden war, hätten sie nach und nach die verschobenen Operationen nachgeholt. «Wir haben dann nicht nur am Morgen und unter der Woche Eingriffe vorgenommen, sondern auch am Samstag oder am Abend», sagt Antonio Nocito. Sollte sich die Covid-Situation in den Spitälern weiter zuspitzen, käme das Ampelsystem wohl erneut zum Einsatz. Es habe sich bewährt, sagt Antonio Nocito. Trotzdem hofft er, dass es nicht so weit kommt.
Wer zu spät Hilfe holt, dem kann nicht mehr immer geholfen werden
Immerhin haben sich seine schlimmsten Befürchtungen trotz OP-Verbots nicht bewahrheitet: Bei den dringenden chirurgischen Fällen, insbesondere bei Tumoren, hätten die Patientinnen und Patienten trotz Corona keine Abstriche machen müssen, sagt er.
Was er hingegen gesehen hat und ihn auch frustriert, ist, dass wegen Covid-19 viele Patientinnen und Patienten auf Vorsorgeuntersuchungen verzichtet oder trotz Beschwerden nicht ins Spital gekommen sind. «Sie sagten dann in der Sprechstunde zum Beispiel, sie hätten schon länger Blut im Stuhl, aber gedacht, das renke sich schon wieder ein. Die Spitäler hätten ja genug zu tun mit Covid-Patienten.»
Das führte dazu, dass Antonio Nocito und sein Team viele Tumor-Patienten behandelten, deren Erkrankung schon weit fortgeschritten war.
Indirekt sei das natürlich eine Folge der Pandemie, sagt er: «Ohne Corona wären diese Patienten vielleicht früher gekommen und wir hätten noch etwas tun können.»