
«Baumfänger»: Resonanzräume zwischen Natur und Kultur
Das Guckloch im Schaufenster ist darauf ausgelegt: Gwundernasen versuchen einen Blick ins Kunsthaus Zofingen zu erhaschen. Ihr Blick fällt auf dichtbelaubte, nahe beieinander stehende Bäume, die hin- und herschwingen. Akteurin ist eine Frauengestalt, die die biegsamen Stämme Saiten gleich in Bewegung versetzt. Die Bäume in diesem Video der Solothurner Künstlerin Victorine Müller stehen in Göschenen im Kanton Uri. Hier oben, 1111 Meter über Meer, arbeitet und lebt sie seit Anfang April – und freut sich auf die Ausstellung «Baumfänger», die mit Verspätung am 15. August startet. Mehrere ihrer acht Videos, die im Erdgeschoss auf drei Leinwänden zu sehen sein werden, sind hier entstanden. Das Zentrum des bespielten Raumes bildet eine schwebende transparente Plastikhülle in Form eines Baumes. Der Tontechniker Hanspeter Gutjahr und die Bratschistin Charlotte Hug sind aktuell dabei, eine Tonspur dazu zu kreieren. Alle Elemente wie die Videos «Licht auf dem Objekt», das transparente Objekt selbst und der Klang sollen sich in eine räumliche Choreografie fügen, innerhalb derer die Videos aufeinander Bezug nehmen.
Atelier im «Kraftort» von Göschenen
Victorine Müller ist eine schlanke, hoch gewachsene Frau mit weichen und feinen Gesichtszügen. Ihr Blick aus intensiv braunen Augen verrät Neugier und wache Präsenz. Ihre Stimme ist dunkel. Sie lacht gern: «Wenn ich in der Stadt bin, fokussiere ich mich auf ein Ziel», sagt sie. «Hier oben in Göschenen bin ich weg vom Lärm, meine Aktivitäten wachsen in die Breite.» Das Atelier mit hohen Oberlichtern ist hell und freundlich, die Wände sind mit zahllosen transformatorischen Zeichnungen drapiert. Und doch zieht es sie in erster Linie magisch nach draussen in die Natur. Auf ihrem Laptop zeigt sie ein Video: Eine rot gekleidete Gestalt hält mehrere Pflanzenbüschel über den Kopf. Wie vom Wind bewegt wogen sie hin und her. Die Bewegung ist so heftig, dass sich die Samen flimmernd und staubig in die Landschaft hinaus verstreuen. Es ist ein traumwandlerisches Bild. Ein ebenso enger Dialog mit der Natur gelingt ihr im Video «Schneeschmelze». Schmelzwassertropfen ergiessen sich von einem Felsen hinunter ins Bildzentrum. Hinter einem weissen, im Wind wallenden Stoff bewegt sich eine nackte, flüchtige Figur. «Die Gunst der Stunde, des Augenblicks fasziniert mich», erklärt Victorine Müller, «meist ist die erste Einstellung die beste, Wiederholungen der Szenen scheitern oft.» Eine andere Filmsequenz heisst «The pink Walk» und lässt sie in einem pinken Kleid um einen Felsblock auf einer Hochebene mäandern. Victorine Müller zeigt ihre schlichten, unifarbenen Kleider, die sie selber näht und nach Bedarf für Videosequenzen anzieht: «Auch Farben sind Bewegung und Klang», ruft sie in Erinnerung.
Resonanzraum zwischen Objekt und Betrachtenden
In früheren Jahren ihres Schaffens hat sie sich in durchsichtige Kokons aus PVC hineinbegeben und mit ihren Auftritten Aufsehen erregt. Beispielhaft dafür steht ein überdimensionierter Fuss. In anderen Skulpturen schafft sie Kokons innerhalb des Kokons. Am 12. September lässt sie ihren durchsichtigen Elefanten aufleben und führt im Tier aus transparentem Plastik eine Performance ganz eigener Prägung auf. Es geht dabei weniger um Aktionen als um eine auratische Präsenz. Indem sie dem Atmen der Luftpumpen ihrer PVC-Skulptur das eigene Atmen hinzufügt, überschreitet sie ihre körperlichen Grenzen und versetzt sich in einem animistischen Akt in das metaphorische Wesen ihres Elefanten. Es ist nicht allein das unablässige «Atmen» der Luftpumpen, sondern das wirkliche Atmen der Performerin, das die Skulptur verlebendigt. Für die Künstlerin ist es immer wieder überraschend, wie ihre blosse Präsenz im durchsichtigen Tier das Publikum in eine konzentrierte Ruhe versetzt.

Baumfänger – oder was hängen bleibt
Die am 15. August mit einer Vernissage startende Ausstellung «Baumfänger» wird mit einem Blick auf das Zusammenleben mit den Bäumen, auf Überliefertes, die mystischen Baumwesen und das geheimnisvolle Geflecht der Wurzeln eröffnet. Vier künstlerische Positionen laden auf unterschiedliche Art und Weise mittels Bildhauerei, Fotografie, Installation und Performance ein, den Baum zu erleben. Vom Erdreich bis zum goldenen Blattwerk wird Verborgenes sichtbar.
Die Ausstellung legt Wurzeln und Lebensadern frei. Nicht nur sprichwörtlich, sondern sinnbildlich. Das Künstlerduo ComCom mit Johannes M. Hedinger und Markus Gossolt hat mit archäologischer Präzision an den Zofinger Bahngeleisen einen Baum mitsamt seinen Wurzeln ausgegraben. Das Wurzelwerk haben sie mit Wasser bis aufs Wurzelhaar ausgespült und trocknen lassen. «Wir sind ganz nervös» gibt die Kuratorin Claudia Waldner preis, «inwiefern wir diese voluminöse Baumwurzel als Kronleuchter im grossen Saal oben an die Decke ziehen können». Das Publikum schaut von unten ins feine Geäder der Wurzel hinein. Diese hat ihre Ausdehnung aufgrund ihrer Versorgung mit Nährstoffen und der Bodenqualität gewonnen und sich entsprechend in die Erde hineingebohrt. Das eindrückliche Bild regt zur Reflexion an.
Nicht minder anregend ist die Holzskulptur, die Beat Breitenstein bereits jetzt sichtbar vor dem Kunsthaus ausstellt. Der rohe Block aus Holz ist 178 Jahre alt und wiegt tonnenschwer. Im Holzschnitt sind die Jahresringe und damit die Wachstumsgeschichte des Baumstrunks entzifferbar. Breitenstein hat zwei Jahre lang täglich Eichenblätter vergoldet und bringt diese derzeit auf einer grossen Fläche im Obergeschoss an, wo sie gepflückt und erstanden werden können. Der Verkaufspreis alimentiert die Pflanzung eines neuen Baumes. Der an der Finissage im Oktober gepflanzte Breitwuchs dürfte mehr als 100 Jahre überdauern.
Die gebürtige Aargauerin Marianne Engel forscht an der Schnittstelle zwischen Natur und Kunst. Sie komplettiert die Ausstellung mit ihren Untersuchungen zum Erdreich und ihrer Bewohner. Mithilfe von Fotografien, Installationen und leuchtenden Objekten lotet sie natürliche Prozesse aus und stellt sie in einen neuen Zusammenhang. Die Vernissage der Ausstellung Baumfänger ist auf den 15. August geplant. Die Aufbauarbeiten laufen, der Baumstrunk vor dem Haus ist bereits erlebbar. (mif)
Weiteres Programm siehe auf www.kunsthauszofingen.ch