Beschimpfen, schlagen, beissen oder spucken: Die Gewalt in Aargauer Spitälern nimmt zu

19. Februar 2018, 22.30 Uhr, Notfallstation im Kantonsspital Aarau (KSA): Mario (Name geändert) liegt auf seinem Krankenbett. Danach rastet er aus. Er schreit, wehrt sich mit Händen und Füssen gegen das Notfallpersonal. Mitarbeiter rufen den Sicherheitsdienst, doch das reicht nicht aus, um Mario zu beruhigen. Eine Patrouille der Stadtpolizei stösst dazu.

Marios Gewaltausbruch wird schlimmer. «Pausenclown», «Hurensohn», «Idiot» nennt er einen der beiden Polizisten. Später will er sie mit beiden Fäusten angreifen, der Sicherheitsdienst hält ihn zurück. Es geht so weit, dass sie Mario ans Bett festbinden müssen. Der Patient flucht weiter, «ich mache dich kaputt», sagt er zum Polizisten. Als der Polizist mit seinem Kollegen das Zimmer verlässt, droht ihm Mario mehrmals mit dem Tod. Tags darauf reichen die Stadtpolizisten Anzeige gegen ihn ein.

Nicht nur alkoholisierte Patienten werden ausfällig

Beschimpfen, drohen, schlagen, beissen, spucken oder begrapschen – Gewalt gegen Spital- und Sicherheitspersonal nimmt viele Formen an. Aggressive Patienten wie Mario sind in vielen Spitälern keine Seltenheit mehr. Auch in den beiden Kantonsspitälern in Aarau und Baden nicht.

«Das Aggressionspotenzial hier hat zugenommen», sagt Isabelle Wenzinger, Sprecherin des Kantonsspitals Aarau. Beschimpfungen und Drohungen kämen inzwischen regelmässig auf unterschiedlichen Abteilungen vor. Wie viele es genau sind, ist nicht bekannt: Das KSA gibt seine Zahlen nicht öffentlich heraus.

Eine frühere AZ-Anfrage zeigt aber: Von 2015 auf 2016 haben sich Fälle von Gewalt in Aarau ungefähr verdoppelt. Beim Spital erklärt man sich diese Häufung damit, dass die Mitarbeitenden in jener Zeit zum Thema sensibilisiert und geschult wurden. Zwischenfälle wurden häufiger gemeldet, weshalb es auch zum markanten Anstieg kam. In den Folgejahren blieb eine weitere Verdopplung aus, doch es gebe weiterhin eine leichte Zunahme, sagt Wenzinger. Gleichzeitig betreut das KSA aber auch immer mehr Patienten.

Man beobachte einen Trend zur Verrohung, sagt Wenzinger. Besonders die Schwelle zu verbaler Gewalt sei deutlich gesunken. Früher habe das Spitalpersonal vor allem alkoholisierte Patienten zurechtweisen müssen. Heute würden auch viele andere ausfällig, sagt Wenzinger. Etwa dann, wenn die Ansprüche der Patienten nicht erfüllt werden könnten.

Auch das Kantonsspital Baden (KSB) hat immer wieder mit Übergriffen zu tun. Das Spital führt eine detaillierte Statistik. Zwischen Januar und Ende Oktober wurden dieses Jahr 240 Gewaltvorfälle dokumentiert. Das sind bereits 37 mehr als im Jahr davor. Fast in jedem zweiten Fall ist das Personal der Intermediate Care Station zwischen Intensivstation und Notfallzentrum betroffen. Auf dem Notfall allein gab es dieses Jahr bislang 58 Übergriffe.

Spitalpersonal wird spezifisch geschult

Häufig reagierten Patienten aggressiv, wenn sie Medikamente einnehmen müssten oder ihnen etwas verwehrt werde, erklärt KSB-Sprecher Omar Gisler. Und trotzdem: «In ungefähr der Hälfte der Fälle gibt es keinen nachvollziehbaren Grund für die Aggression.» Ein wichtiges Kriterium beim Analysieren der Vorfälle sei der Zustand des Aggressors, sagt Gisler. Meistens (179 Mal) waren die Patienten verwirrt, in 23 Fällen waren Alkohol oder Drogen im Spiel. Nur sieben Mal wurden Patienten wegen starker Schmerzen aggressiv.

Wie im KSA wird auch im KSB das Personal in Deeskalationstechniken geschult, Sicherheitskräfte greifen bei Bedarf ein. Bei verwirrten Patienten seien Verständnis und Toleranz seitens der KSB-Mitarbeiter hoch, sagt Gisler. «Alles müssen sie sich aber nicht gefallen lassen.» Gefährden die Patienten andere oder sich selbst, oder sind gar Waffen im Spiel, bleibt nur eine Option: die Polizei rufen. Elf Mal zog das Kantonsspital Baden dieses Jahr polizeiliche Hilfe bei.

Der Beschuldigte fuchtelte mit dem Samuraischwert herum

Zurück zu Mario, dem randalierenden Patienten im KSA. Vor ein paar Tagen musste er sich vor dem Bezirksgericht Aarau verantworten. Ihm wird ein weiterer Vorfall angelastet. Rund zwei Monate nach seinem Ausraster im Spital soll er seine Nachbarin und deren Ehemann mit einem Samuraischwert bedroht haben.

Mario bestreitet nichts und gibt seine Schuld in beiden Fällen zu. Weil das Strafmass längst klar ist, findet der Prozess im abgekürzten Verfahren statt. Mario wird zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten und einer Geldstrafe von 1800 Franken verurteilt. Zusätzlich ordnet das Gericht eine stationäre therapeutische Massnahme an.

Denn klar ist auch: Mario ist alkoholsüchtig. Seit einigen Monaten wird er in einer Rehabilitations-Institution im Aargau behandelt. Mario wohnt dort und arbeitet in der hausinternen Reinigung. Wie lange er in stationärer Behandlung sein wird, steht noch nicht fest. Laut Gesetz darf die Therapie maximal drei Jahre dauern. Verläuft sie erfolgreich, muss Mario seine Haftstrafe nicht antreten.