
Bilder beeinflussen unser Verhalten: Bröckelt die Maskendisziplin wegen der Euro 2020?
England gegen Dänemark, der Halbfinal der Euro 2020: 65’000 Zuschauer sind live im Wembley-Stadion mit dabei, es herrscht keine Maskenpflicht. Fans fallen sich um die Arme, wenn ihre Lieblinge einen Treffer erzielen. Die Bilder gehen um die Welt. Um die Welt gehen auch die Bilder von den unmaskierten Besuchern des Tennisturniers in Wimbledon.
Auch Anlässe in der Schweiz strahlen eine zurückgewonnene Normalität aus. So berichtete die «Luzerner Zeitung» Anfang Juli über den ersten Grossanlass ohne Maskenpflicht im KKL Luzern mit mehr als 1000 Personen. Fotos zeigen, wie Personen dicht nebeneinandersitzend das Konzert der Festival Strings verfolgen, nur die wenigsten mit Maske.

Erste Grossveranstaltung im KKL: Festival Strings mit Midori mit Covid-Zertifikatspflicht vor mindestens 1200 Besuchern.
Die erwähnten Veranstaltungen haben etwas gemeinsam: Dabei sein dürfen nur Personen mit Covid-Zertifikat, also Geimpfte, Genesene oder Getestete. In der Schweiz gelten seit 26. Juni keine Beschränkungen mehr für Grossveranstaltungen mit Zertifikat.
Bloss: Es gibt auch kleinere Anlässe. Bei Veranstaltungen ohne Covid-Zertifikat herrscht in Innenräumen nach wie vor Maskenpflicht. Die Kapazität der Örtlichkeit kann bis zu zwei Dritteln genutzt werden. Am Dienstagabend erschienen 430 anstatt die 160 angemeldeten Personen, als die Delegierten der SVP des Kantons Bern einen neuen Parteipräsidenten (alt Nationalrat Manfred Bühler) kürten.
«Die Maske hat ausgedient»
Im Aaresaal im Restaurant Kreuz in Belp sassen die Menschen dicht gedrängt nebeneinander, praktisch niemand trug eine Schutzmaske, ein mutmasslicher Verstoss gegen die Covid-Verordnung. «Es ist uns effektiv nicht gelungen, die Maskenpflicht durchzusetzen», sagte Aliki Panayides, Geschäftsführerin der SVP Bern. Und Thomas Knutti, Mitanwärter auf das Präsidentenamt, sagte gegenüber CH Media: «Als Lastwagen-Chauffeur bin ich in der ganzen Schweiz unterwegs und stelle fest: Die Maske hat ausgedient.»

Kaum Masken zu sehen: Delegierte applaudieren einem Redner an der ausserordentlichen Delegiertenversammlung zur Wahl des neuen Präsidenten der SVP des Kantons Bern.
Knuttis Alltagsbeobachtung machen viele Leute. Die Maskendisziplin scheint zu bröckeln. Das offenbarte sich diese Woche etwa einem Eltern-Kind-Turnanlass in der Zentralschweiz, an dem sich gegen 100 Personen tummelten. Kaum ein Vater, kaum eine Mutter setzte eine Maske auf. Drohen die gleichen Szenarien jetzt auch beim Konzert der Dorfmusik, der Aufführung des Laientheaters, beim Grümpelturnier mit Festzelt? Und: Bestimmen die Bilder von Veranstaltungen mit Zertifikat generell unser Verhalten? Ahmen wir die Fans im Wembley-Stadion, die Konzertbesucher im KKL sorglos nach, erliegen wir der Wirkmacht der Bilder gemäss dem Motto: «Wenn die keine Maske tragen, weshalb soll ich dann eine montieren?»
Das Verhalten anderer beeinflusst das eigene Verhalten
Robert Tobias ist Oberassistent am Psychologischen Institut der Universität Zürich und forscht unter anderem zum Thema Verhaltensänderungen. «Bilder, welche das Verhalten anderer Personen zeigen, können das eigene Verhalten beeinflussen, das weiss man aus der Sozialpsychologie», sagt er. Wenn man sich mit den Personen auf den Bildern identifiziere, nehme man deren Verhalten als Norm wahr: Dieses Verhalten sei «richtig» oder «normal». «Diese Beurteilung geschieht weitgehend unbewusst», sagt Sozialpsychologe Tobias.
Sobald man darüber nachdenke, etwa, weil man sich vor Corona fürchte, ziehe man aber weitere Faktoren in Erwägung und verstosse deshalb nicht gleich gegen die Verordnung. «Wem die Sache aber nicht so wichtig ist, interpretiert die Bilder eher so, dass man es mit den Regeln nicht mehr so genau zu nehmen braucht», sagt Robert Tobias.

Fans der Schweizer Nationalmannschaft feiern im Stadion – ohne Maske.
Margit Oswald beobachtet allgemein Ermüdungserscheinungen beim Maskentragen. «Und dann sieht man diese unglaubliche Menge von Menschen, die unmaskiert Grossveranstaltungen beiwohnen», sagt die emeritierte Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Bern. «Diese Bilder haben eine normbildende Kraft.» Man reflektiere dabei nicht mehr unbedingt, dass bei Veranstaltungen ohne Zertifikat eigentlich eine Maskenpflicht gelten würde. Oswald vermutet, dass viele Personen auch aufgrund der fortschreitenden Impfkampagne das Maskentragen für nicht mehr zwingend halten.
Hohe Zustimmung für Maskenpflicht im Frühling
Michael Hermann, Geschäftsführer des Meinungsforschungsinstituts Sotomo, hat im Auftrag der SRG schon mehrere Coronabefragungen durchgeführt – und bezüglich der Maskentragpflicht entdeckt: «Es gibt einen Herdeneffekt in beide Richtungen.» Weil die Masken derart auffällig seien, gebe es Druck mitzuziehen, wenn viele sie tragen. «Umgekehrt entsteht aber auch ein Druck, sie auszuziehen, wenn immer weniger Menschen in der Öffentlichkeit mit Maske unterwegs sind», sagt Hermann.

Auch die Zuschauern in Wimbledon tragen keine Masken.
Bei der Erhebung im März befürworteten 76 Prozent der Befragten eine schweizweite Maskenpflicht an öffentlichen Veranstaltungen. Damals waren hierzulande jedoch bloss relativ wenige Personen geimpft. Mittlerweile haben 38 Prozent schon zweimal einen Piks erhalten, weitere 14 Prozent haben eine Impfdosis erhalten. Es scheint gut möglich, dass sich die höhere Impfquote bei der nächsten Befragung in einer geringeren Akzeptanz der Maskenpflicht niederschlägt.