Bis zu 40 Prozent der Lehrabgänger erhalten nur noch befristet Arbeit

Erstaunlich viele Lernende erhalten nach ihrem Abschluss nur eine befristete Stelle. Ausgeprägt ist dies im kaufmännischen Bereich der Fall. Zwischen 35 und 40 Prozent der befragten KV-Lehrabgänger erhalten lediglich einen befristeten Arbeitsvertrag, wie eine Umfrage des Kaufmännischen Verbands (KV) Schweiz zeigt.

Gerade kleineren und mittelgrossen Firmen sei es oft nicht möglich, alle Lehrabgänger unbefristet zu beschäftigen, sagt Michael Kraft, zuständig für Jugendpolitik beim KV Schweiz. Da es in diesen Betrieben zu wenigen Stellenwechseln komme, habe es nicht genügend offene Stellen für Lehrabgänger. Dennoch möchten viele Firmen ihren Lehrabgängern eine gute Anschlusslösung bieten, damit sie Berufserfahrung nach der Lehre sammeln könnten, sagt Kraft. Daher würden zahlreiche Lehrabgänger nur befristet unter Vertag genommen. Kommt es zu einer Anstellung beim ehemaligen Lehrbetrieb, ist deshalb der Anteil der befristeten Stellen mit rund 45 Prozent deutlich höher als in einem neuen Betrieb (rund 30 Prozent).

Hinzu komme, dass Jugendliche und junge Erwachsene ohnehin häufiger befristet angestellt würden, sagt Kraft. Bei schlechter Wirtschaftslage werde ihnen rascher gekündigt oder der befristete Arbeitsvertrag nicht erneuert. Aber auch für die ehemaligen Lernenden könne eine befristete Stelle sinnvoll sein. Sie würden sich bewusst darauf einlassen, weil sie etwa in absehbarer Zeit eine Vollzeitausbildung, einen Sprachaufenthalt oder die Rekrutenschule absolvieren würden. «Natürlich gibt es auch Lehrabgänger, die eine befristete Stelle annehmen, weil sie nichts anderes gefunden haben», sagt Kraft. Dieser Anteil bewege sich zwischen 10 und 15 Prozent.

Insgesamt sei die hohe Zahl an befristeten Verträgen ein zweischneidiges Schwert. So erhielten Lehrabgänger zusätzliche Berufserfahrung oder eine solche Stelle passe gut in die Lebensplanung. Gleichzeitig handle es sich um eine unsichere, tendenziell prekäre Arbeitssituation.

Anteil steigt deutlich
Während im kaufmännischen Bereich der Anteil an befristeten Stellen für Lehrabgänger bereits seit einigen Jahren hoch ist, so zeigt sich insgesamt bei den 15- bis 24-Jährigen ein Anstieg. Zwischen 2010 und 2017 ist die Zahl befristeter Arbeitsverträge um über 30 Prozent auf rund 80 000 gestiegen. Gleichzeitig stieg ihr prozentualer Anteil an allen Anstellungsverhältnissen von 18 auf 23 Prozent. Dies zeigen Zahlen des Bundesamts für Statistik.

Auch ausserhalb des kaufmännischen Sektors ist ein Trend zu befristeten Verträgen nach der Lehre zu beobachten, wie eine Umfrage bei mehreren grossen Schweizer Firmen zeigt. Genaue Zahlen sind aber meist nicht verfügbar. Der Pharmakonzern Novartis bildet jährlich rund 300 Lernende aus, davon schliessen pro Jahr rund 100 ihre Lehre ab. Jeweils rund die Hälfte der Lernenden bleibe bei Novartis, sagt eine Sprecherin. Davon erhielten ein Viertel eine Festanstellung, die übrigen drei Viertel würden temporär angestellt.

Der Entscheid für eine Fest- oder Temporäranstellung werde aber nicht aufgrund der unterschiedlichen Anstellungsbedingungen gefällt, verteidigt sich Novartis mit Blick auf die hohe Zahl an temporären Verträgen. Das Unternehmen begründet sein Vorgehen mit der Stellen- und der Zukunftsplanung der Mitarbeiter. So stünden etwa eine Weiterbildung, Militärdienst oder Auslandaufenthalte an. Zudem gebe es Fälle, wo die Stelle nur temporär bestehe.

Befristete schlechter gestellt
Bei Roche erhalten rund 70 Prozent der Lernenden nach ihrem Abschluss eine Anstellung. Wie sich dies auf Fest- oder Temporärstellen verteilt, kann das Unternehmen nicht sagen, da das Verhältnis von Jahr zu Jahr stark variiere. Lernende, die nach ihrem Abschluss nicht direkt angestellt werden können, erhalten einen befristeten Vertrag von einem Jahr, um Berufserfahrung zu sammeln, und einen Festvertrag zu suchen, sei es intern oder extern.

Coop beschäftigt rund 80 Prozent der Lehrabgänger weiter, die grosse Mehrheit davon mit unbefristeten Verträgen, wie eine Sprecherin sagt. Das Unternehmen vergibt jährlich über 1000 Lehrstellen, insgesamt beschäftigt der Detailhändler über 3500 Lernende. Migros unterscheidet derweil nicht danach, in welcher Form Lehrabgänger angestellt werden. Im Schnitt werden zwei Drittel nach dem Lehrabschluss weiter beschäftigt.

Kritisch bewertet der Gewerkschaftsbund die hohe Zahl an befristet angestellten Lehrabgängern. «Es ist wichtig, dass die Jungen eine Festanstellung erhalten, damit sie im Vergleich zu den übrigen Angestellten die gleichen Chancen haben», sagt Chefökonom Daniel Lampart. Wer nur befristet angestellt sei, habe einen anderen Status und sei nicht so stark integriert. Er nennt die Lohn- und Entwicklungschancen als Beispiel. Beim Thema Weiterbildung seien befristet angestellte Mitarbeiter benachteiligt.

Generell sei es für Junge schwieriger, eine Stelle zu finden, sagt Lampart. Die Arbeitslosigkeit sei heute höher als Anfang der 2000er-Jahre. Dies könnten Arbeitgeber ausnützen, indem sie schlechtere Arbeitsbedingungen etwa in Form befristeter Verträge anbieten würden.