
Bordellbesuche und die Kunst der Verführung: Ein Sexualtherapeut erklärt was fehlt, wenn der Sex fehlt
Bordelle gehören zu unserer Gesellschaft, die Dienstleistung hat zwar kein gutes Ansehen, aber ohne geht es auch nicht. Oder doch? Wir wollten von einem Sexualtherapeuten wissen, was er darüber denkt. Werner Huwiler ist Mitglied des Zürcher Instituts für klinische Sexologie&Sexualtherapie ZISS. Er sieht viel Aufholbedarf in der sexuellen Entwicklung – bei Männern und Frauen.
Männer können nicht ohne Sex leben, heisst es. Stimmt das?
Werner Huwiler: Man kann als Mann Sex auch über die Selbstbefriedigung ausleben, oder man kann über Chats erotische Kontakte haben, ohne die Frauen zu treffen. Das machen viele Männer. Ein Leben ohne Geschlechtsverkehr ist machbar, für beide Geschlechter.
Für manche scheint das sehr schwierig zu sein.
Ja, das hängt davon ab, ob hormonell ein grösserer oder kleinerer Trieb vorhanden ist. Aber auch damit, wie man gelernt hat, damit umzugehen, dass man etwas nicht bekommt, was man sich wünscht.
Was sagen Sie Männern, denen die sexuelle Befriedigung sehr fehlt?
Ich schaue mit ihnen an, wie man mehr in Kontakt mit Frauen kommt, wie man auftritt, wie es zu Sex kommen könnte. Es geht ums Verführen, ums sich Präsentieren. Und man kann die Selbstbefriedigung genussvoller gestalten. Da ist oft Potenzial da, sodass es zu einem valablen Ersatz werden kann.
Werner Huwiler, Sexualtherapeut und Klinischer Sexologe in Zürich
© CH Media
Was fehlt, wenn der Geschlechtsverkehr fehlt?
Der intime Austausch mit einem Menschen. Es fehlt, die erotischen Berührungen sowohl zu bekommen, wie auch geben zu können.
Denken Sie, den Männern fehlt der Sex tatsächlich mehr als den Frauen, oder fordern sie ihn selbstverständlicher ein?
Die Biologie spielt sicher mit. Aber auch, wie man in einer Gesellschaft die sexuellen Normen erfährt. Fakt ist, dass viel mehr Männer auf der Suche nach Sex sind und Frauen, wenn sie Sex suchen, diesen deshalb schneller bekommen. Es gibt ein Ungleichgewicht.
Man hört immer wieder das Argument, Bordelle würden Vergewaltigungen verhindern.
Nein, ich glaube nicht, dass Bordell-Besuche Vergewaltigungen verhindern.
Was ist anders aus sexualtherapeutischer Sicht, wenn man für Sex bezahlt?
Es fehlt das Begehrtwerden. Den Männern ist bewusst, sie bekommen das, wo für sie bezahlen, aber die emotionale Verbindung fehlt.
Können Sie sich eine andere Art von bezahltem Sex vorstellen als Bordelle? Mehr Richtung therapeutischer Sex, bei dem die Frau die Kontrolle behalten kann?
Das gibt es. Tantramassagen mit sexueller Befriedigung. Das ist ein Markt ausserhalb der Bordelle.
Auf den Kommentar über das Buch über die Schweizer Prostitution «Piff, Paff, Puff» erhielten wir erstaunlich viele Zuschriften. Ein Mann schrieb, er gehe nicht ins Bordell, aber er hätte sehr gerne Sex. Er sei 72 Jahre alt, aber stehe auf junge Frauen, und die wollten keinen Sex mehr mit ihm. Was sagen Sie so einem Mann?
Man müsste anschauen, warum bei ihm der Anziehungs-Code auf jungen Frauen stehen geblieben ist. Warum er sich sexuell nicht dem Alter angepasst entwickelt hat.
Ist es nicht naturgegeben, dass Männer vor allem Frauen im zeugungsfähigen Alter sexy finden?
Nein, das hat mit Lernen zu tun. Was mich erregt, verändert sich im Alter. Als 16-Jährige kann man sich nicht vorstellen, mit einem 60-jährigen Sex zu haben. Aber mit den Jahren kann man auch ältere Menschen erotisieren.
Was finden jene, die das können, an ihren Partnern attraktiv?
Die sexuelle Erfahrung, den emotionalen Teil, den spielerischen Umgang.
Und das kann man lernen?
Ja, das ist klassische Sexualtherapie. Man muss den eigenen Körper besser kennen lernen. Es geht darum, etwas zu lernen, was mehr mit der Realität und weniger mit Fantasien zu tun hat. Man kann mit 70 Jahren ja auch nicht mehr auf einen 4000er-Gipfel rennen, aber man kann noch wunderbare alpine Wanderungen machen. Wenn ich daran festhalte, dass ich noch 4000er bezwingen will, frustriert das. Diese Anpassungsleistung müssen wir im Alter auf verschiedenen Ebenen machen, auch im Sexualbereich.
Geht es nur darum, den Verzicht zu akzeptieren? Oder ist es lustvoller?
Es geht darum, einen möglichst hohen Genuss zu erleben, mit dem, was noch möglich ist. Man kann lernen, den Körper anders einzuschätzen, anders zu berühren, anders zu bewegen, erotische Inputs über mehr Sinne aufzunehmen. Da gibt es ein grosses unausgeschöpftes Potenzial bei vielen.
Werner Huwiler: «Prostitution sollte sich als Beruf etablieren.»
© Sandra Ardizzone
In anderen Leser-Rückmeldungen hiess es, es sei naiv, Regelungen in Bordellen zu fordern wie Alterslimite, Arbeitszeitbeschränkung oder Alkoholtest. Wie sehen Sie das?
Es besteht das Risiko, dass alles, was verboten wird, dann im Untergrund ohne Kontrolle geschieht. Männer werden immer Frauen finden, die ihre sexuellen Wünsche gegen Bezahlung umsetzen.
Der Markt würde dafür schrumpfen. Nicht alle würden Illegalität in Kauf nehmen.
Das schon. Doch ich halte es für wünschenswerter, Prostitution als Beruf zu etablieren mit Sozial-, Berufsausfall-, und Krankenversicherungen. Aber ich denke nicht, dass unsere Gesellschaft im Moment bereit ist, die Prostitution als Beruf zu akzeptieren.
Ob anerkannter oder tabuisierter Beruf – den Frauen tut die Arbeit nicht gut…
Ja, ich anerkenne, dass viele Frauen psychisch und physisch nicht gesund bleiben – wie es auch in Berufen der Fall ist, wo mehrheitlich Männer arbeiten. Wenn zum Beispiel ein Haus brennt und der Feuerwehrmann ins Haus geht, um Menschen zu retten, riskiert er schlimme körperliche Verletzungen und auch traumatische Erlebnisse. Hier kann es unsere Gesellschaft auch akzeptieren, dass es so ist, und sorgt zum Beispiel bei Bauarbeitern mit einer Frühpensionierung für einen gesellschaftlichen Ausgleich.
Unsere Gesellschaft diskutiert mit MeToo gerade sehr lebhaft, was der Mann mit einer Frau machen darf. Warum bleibt die Prostitution unangetastet?
Die Diskussion müsste differenzierter geführt werden. Männer werden pauschal verurteilt. Das ist in einem ersten Schritt nötig, aber wenn man weiterkommen will, muss man differenzieren. Es gibt unter den Männern und Transgendermenschen genau so Opfer.
Was wäre zu tun?
Ich habe viele Männer in der Therapie, die verunsichert sind, die glauben, sie dürften den ersten Schritt nicht mehr machen, weil wenn sie irgendein Signal der Frau verpassen, dafür verurteilt werden.
Wie ordnen Sie das ein?
In der Erotik und Sexualität gibt es keine klaren Grenzen, die für alle gelten. Ich spreche nicht von Machtmissbrauch, das geht nie. Aber was für den einen übergriffig ist, ist für die andere Person Teil eines humorvollen Spiels. Diese Auseinandersetzung mit der Verführung fehlt. Und so sagen nun manche Männer: Ich gehe lieber ins Bordell, da bin ich auf der sicheren Seite. Mit dem Vertrag, den ich eingehe, ist das vom Tisch. Aber die Fähigkeit des Verführens geht damit verloren. Man konnte schon immer eine Abfuhr kassieren, aber die Bereitschaft, das Wagnis einzugehen, nimmt ab.
Wird es die nächste Generation besser können?
Schwierig zu sagen. Es kommt drauf an, welchen Einfluss Pornografie auf die jungen Menschen hat. In der Pornografie geht es nie um die Verführung im wirklichen Leben.
Wo könnte man das Verführen lernen?
In Kinderbüchern, Aufklärungsbüchern, von den Eltern, in der Schule. Da werden bezüglich Sexualität primär Geschlechtskrankheiten, Verhütung oder sexuelle Gewalt thematisiert. Selten die Lust. Wir lernen so vieles, aber mit diesem wichtigen Thema werden die Menschen allein gelassen. Sie finden, was sie finden. Die einen können es gut einordnen, die anderen haben Mühe. Wir haben angeborene sexuelle Reflexe, aber wir lernen ständig dazu, wir könnten unsere Sexualität weiterentwickeln bis ins hohe Alter.
48 Prostituierte in Quarantäne im Bordell: Findet sich ein besserer Ort?
Im Bordell an der Zürcher Langstrasse, wo am Dienstag ein Coronafall bekannt wurde, gibt es noch eine weitere Infizierte, wie die Gesundheitsdirektion Kanton Zürich bestätigt. 48 Frauen sind bis nächsten Mittwoch in Quarantäne. Sie wohnen über der Lugano-Bar jeweils zu viert in einem Zimmer.
Ist eine Quarantäne in so engen Verhältnissen zumutbar? Darauf sagt seitens der Stadt Kommunikationsleiter Mathias Ninck: «Grundsätzlich ja, aber die angetroffene Situation ist schon sehr prekär und macht es nötig, genau hinzuschauen. Wenn Hilfe nötig ist, versucht die Stadt zu helfen, zum Beispiel eine Liegenschaft zu suchen.» Darum kümmert sich bereits die Zürcher Stadtmission. Ob ein Ort gefunden wurde, ist nicht klar. Sprecherin Kari-Anne Mey sagt dazu bloss: «Die Frauen sind versorgt.» Sie findet aber: «Es wäre gut, wenn die Stadt eine Einrichtung hätte für Leute in prekären Situationen, die plötzlich in Quarantäne müssen. Dazu zählen auch Obdachlose.» (kus)