Chaha Abdulla aus Reiden: «Die Angst ist in Syrien geblieben»

In der Wohnung von Chaha Abdulla und ihrer Familie ist viel los. Nebst der fünffachen Familienmutter ist auch ihr Mann, zwei ihrer Töchter, einer von drei Söhnen und ihr Neffe bei ihr. Aus der Küche duftet ein syrischer Kuchen. 

 

Frau Abdulla, wie kann es sein, dass Sie nicht den gleichen Nachnamen wie Ihr Mann haben, obwohl Sie verheiratet sind? 

Chaha Abdulla: In Syrien behält die Frau ihren Nachnamen nach der Heirat. Die Kinder heissen jedoch immer so wie der Vater. 

Wollten Sie von Anfang an in der Schweiz leben? 

Nein, wir wollten einfach an einen sicheren Ort, weg vom Krieg. 

Wieso wurde es schliesslich die Schweiz? 

Der Bruder meines Mannes hat vor knapp 13 Jahren eine Schweizerin geheiratet. Er holte uns in die Schweiz. Er wohnt aber nicht in Reiden, sondern im Kanton Schwyz. 

Wie verlief die Reise in die Schweiz? 

Sie dauerte insgesamt zwei Wochen. Mit dem Bus ging es zuerst von al-Malikiya nach Istanbul. Das dauerte zweieinhalb Tage. Danach mussten wir ein paar Tage warten, bis wir schliesslich nach Zürich fliegen konnten. 

Wie war es vor dem Krieg in Ihrer Heimat? 

Es war sehr schön und ruhig. Mein Mann arbeitete in der eigenen Bäckerei und ich war Hausfrau. Alle unsere Kinder wurden in Syrien geboren. 

Was vermissen Sie am meisten? 

Meine Familie, ganz klar. Meine Mutter, mein Vater, meine Brüder und Schwestern leben alle noch dort. Zum Glück geht es ihnen im Moment gut, wir telefonieren regelmässig. 

Kommen sie bald nach? 

Nein, dafür fehlt das Geld. Damit wir in die Schweiz flüchten konnten, mussten wir die Bäckerei, unser Haus und alle unsere Sachen verkaufen. Heute kostet die Reise noch mehr und es ist noch schwieriger, hierherzukommen. 

Laut Gesetz müssen Personen mit einem Ausweis F wie Sie wieder zurück nach Syrien, sobald sich die Lage wieder stabilisiert. Würden Sie sich über eine Rückkehr freuen? 

Für mich und meinen Mann wäre das schön, aber nicht für meine Kinder. Sie hätten keine Zukunft in Syrien. Ausserdem ist in Syrien Arabisch die offizielle Landessprache, die auch an den Schulen unterrichtet wird. Weil wir zuhause kurdisch sprechen, hätten die Kinder mit dem Arabisch grosse Mühe. 

Glauben Sie, dass der Krieg in Syrien einmal vorbei sein wird? 

Nein, es wird eher immer schlimmer. Ich glaube nicht, dass es je aufhört. 

Sie sind Muslima. Beten Sie häufig? 

Nein, wir beten nur im Ramadan. In die Moschee gehen wir auch nicht. Meine Schwiegermutter betet mehr als wir (lacht). 

Was gefällt Ihnen an Reiden? 

Reiden ist ruhig und bietet viele Einkaufsmöglichkeiten. 

Und was ist mit den Menschen? 

Wir haben keinen Kontakt zu den Leuten aus Reiden. 

Wieso nicht? 

Die Reider sind einfach so. Ich habe das Gefühl, dass sie uns Ausländer nicht allzu gern haben. 

Haben Sie eine Erklärung dafür? 

In Reiden gibt es sehr viele Ausländer. Das könnte mitunter ein Grund sein. 

Hätten Sie denn gerne mehr Kontakt zu Schweizerinnen und Schweizern? 

Ja, auf jeden Fall! Das würde mir helfen, die Sprache noch besser zu lernen. Viele in Reiden sind zwar nett und wir grüssen einander auf der Strasse, aber Zeit für einen Kaffee bei mir hat niemand. In Zofingen ist das schon ein wenig anders. 

Inwiefern? 

Ich besuche regelmässig das Kulturcafé des Integrationsnetzes Zofingen. Ausserdem nähe ich jeden Freitag Kleider mit anderen Frauen, darunter auch Schweizerinnen. Da sind alle sehr nett. 

Sind Sie denn sonst noch in einem Verein? 

Nein, aber ich besuche so oft wie möglich die Jugi mittwochabends. Manchmal kann ich das Training nicht besuchen, weil wir Besuch kriegen, ich im Haushalt Arbeiten erledigen oder zu meiner Familie schauen muss. 

Wo sehen Sie die grössten Unterschiede zwischen Schweizern und Syrern? 

In Syrien ist vieles einfacher. Um den Strom und das Wasser zu bezahlen, ging ich aufs Amt und bezahlte direkt vor Ort. Hier erhalten wir sehr viele Briefe, Schreiben und Rechnungen. Das ist zum Teil sehr kompliziert. 

Vor allem, wenn man die Sprache nicht beherrscht. 

Das kommt noch dazu. Ich bin froh, habe ich einen Deutschkurs bis zum Niveau A2 absolviert und kann ein bisschen lesen und schreiben. Noch besser und wichtiger ist es, dass ich mittlerweile sehr viel verstehe. 

Sozvin, wie sieht es bei dir als Teenager aus? Ihr dürft ja keinen Alkohol trinken, oder? 

Sozvin: Ja, Hochprozentiges ist bei uns verboten. 

Meidest du Partys mit deinen Freunden deswegen? 

Nein, ich gehe trotzdem hin. Alle wissen, dass ich keinen Alkohol trinke, und sie akzeptieren es. 

Gibt es für dich sonst noch Unterschiede? 

Eine Lehrstelle in der Schweiz zu finden, ist auch viel komplizierter als in Syrien. In Syrien geht man einfach im Laden vorbei und fragt, ob sie einem eine Arbeit geben. Hier in der Schweiz muss ich zuerst telefonieren, dann eine Bewerbung schreiben, an ein Vorstellungsgespräch gehen und allenfalls sogar Probe arbeiten, bis ich eine definitive Zusage habe. 

Zurück zu Ihnen, Frau Abdulla. Wie fühlen Sie sich als Flüchtling in der Schweiz? 

Chaha Abdulla: Wir fühlen uns sicher, und das ist gut. 

Also hatten Sie in der Schweiz nie Angst? 

Nein, die Angst ist zum Glück in Syrien geblieben. 

 

 

«Achtung, fertig, Vorurteile» – Das sagt Chaha Abdulla zu den gängigen Vorurteilen gegenüber Syrern und Flüchtlingen 

«Als ich in die Schweiz kam, habe ich das Kopftuch abgelegt, weil es nicht hierherpasst» 

 

Araber, Türken und Syrer sprechen die gleiche Sprache. 

Nein, das stimmt nicht. Wir sprechen Kurdisch zuhause, das ist ganz anders als Arabisch. In Syrien muss man, wenn man beispielsweise zum Arzt geht, Arabisch sprechen. Aber auch ich habe Mühe, Arabisch zu lesen oder zu schreiben. 

Alle Syrerinnen tragen ein Kopftuch. 

Nicht alle. In Syrien trug ich in der Öffentlichkeit ein Kopftuch. Als ich in die Schweiz kam, habe ich es abgelegt, weil ich gemerkt habe, dass die Leute mich komisch anschauen und dass es nicht hierherpasst. Ich kenne viele syrische Frauen, die das Gleiche gemacht haben. 

Viele syrische Flüchtlinge in der Schweiz sind Ärzte. 

Das kann gut sein, aber aus meiner Familie ist beispielsweise niemand Arzt (lacht). 

In Syrien ist die Familie sehr wichtig. 

Das stimmt. Es ist auch wichtig, eine grosse Familie zu haben. 

Flüchtlinge in der Schweiz wollen nicht arbeiten. 

Das stimmt nicht, wer möchte schon nicht arbeiten und sich ein bisschen Geld dazuverdienen? 

Flüchtlinge in der Schweiz wollen sich nicht anpassen. 

Ich kann nicht von allen reden, aber wir respektieren die Schweizer Kultur sehr. Wir sehen auch gewisse Ähnlichkeiten, was es uns einfacher macht, die Kultur so anzunehmen. Wir sind ja in die Schweiz gekommen, wir müssen uns zwangsläufig anpassen. 

Flüchtlinge erhalten mehr Geld als Schweizer, die nicht arbeiten. 

Wir erhalten für unsere siebenköpfige Familie pro Monat 1800 Franken. Damit bezahlen wir in erster Linie das Essen und unsere Kleidung. Die grossen Beträge wie Miete und Krankenversicherung werden übernommen. Wir leben nicht im Überfluss, wir müssen jeden Monat aufs Geld schauen. 

Zu den Personen

Chaha Abdulla (37) wohnt mit ihrem Ehemann Salah Eddin Sif Eddin (51), ihren beiden Töchtern Sozvin (17) und Solin (10), ihren drei Söhnen Sozdar (16), Ali (14) und Bazahd (12) und ihrer Schwiegermutter in Reiden. 2014 flüchtete die kurdische Familie gemeinsam aus al-Malikiya, das im Norden Syriens liegt, in die Schweiz. Im Moment ist die Familie im Besitz der Ausweises F (vorläufig aufgenommene Flüchtlinge).