Charakterlos, geschmacklich öde, dafür umso beliebter: der Gala-Apfel

Perfekte rote Wangen, schön rund, und manchmal mit Namen versehen, die an exotische (Cabaret-)Tänzerinnen erinnern: Diwa, Red Love, Pink Lady, Goldkiss. Äpfel. Gerade jetzt im Herbst kommt man nicht um sie herum.

Jetzt in der Erntezeit ist die Auswahl am grössten – sollte man meinen. Wer in den Obstabteilungen der grossen Lebensmittelläden steht, sieht wenig von der Vielfalt. An den gefüllten Kisten stecken Schilder mit den immer gleichen Namen drauf: Gala, Braeburn, Golden Delicious, Boskoop, Jazz, Jonagold. Mit viel Glück erhascht man eine Pink Lady. Nach exotischen Tänzerinnen sucht man meist vergebens.

Das kommt nicht von ungefähr. Gala, Braeburn und Golden Delicious werden in der Schweiz am häufigsten angebaut, gehören auch zu den meistgekauften. Gala ist Spitzenreiter. Von dieser Sorte bringen die Obstbauern jährlich über 33 000 000 Tonnen ein. Dabei gäbe es so viele andere Apfelsorten. 1150 alleine in der Schweiz, mehr als 20 000 weltweit. Warum also diese Eintönigkeit?

Der Apfelsensoriker
Auf der Suche nach einer Antwort landet man bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt Agroscope in Wädenswil. Hoch oben, mit Blick auf den Zürichsee und auf Felder voller Bäume, aus denen die Äpfel wie rote Punkte hervorleuchten, testen Jonas Inderbitzin und seine Forscherkollegen Apfelsorten. Inderbitzin ist Sensoriker. Er kennt sich aus mit Geschmack, Duft und Konsistenz. Das zeigt sich schon im Vorraum zu den Apfel-Kühllagern: Noch bevor man die Kisten voller Früchte zu Gesicht bekommt, schlägt einem der Apfel-Duft entgegen. Aber für Inderbitzin duftet es «sehr reif-fruchtig».

Der Lebensmittelwissenschaftler erklärt die Apfeleinöde in den Verkaufsregalen so: «Nur ein Bruchteil der Sorten sind für den direkten Verzehr geeignet.» Nur 30 bis 40 Sorten sind also sogenannte Tafeläpfel für den Detailhandel, schätzt er. Die meisten anderen sind zu sauer und trocknen den Mund aus. Oder sie sind bitter, wie viele der alten Sorten.

Ob die Detailhändler einen Apfel anbieten oder nicht, hängt auch von der Chance ab, dass er in den Einkaufswagen von uns Konsumenten landet. Beim Apfel ist die Grösse kaufentscheidend, wie Inderbitzin sagt. Bei Äpfeln, die kleiner als 6 und grösser als 7,5 Zentimeter sind, greifen wir kaum zu.

Dann spielt die Farbe eine Rolle: Die Haut sollte gleichmässig rot sein. Ganz so, wie man es von Schneewittchen kennt. Dieses Verhalten ist ein Überbleibsel aus der Zeit der Jäger und Sammler. «Die Farbe Rot signalisiert uns, dass die Frucht süss ist und nicht giftig», sagt Inderbitzin. Diese Mechanismen gelten mehr oder weniger für alle Menschen – unabhängig von der Kultur.

Geht es um den Geschmack, sind wir Schweizerinnen und Schweizer eigen. Zumindest im Vergleich mit den Südländern. Das wissen Inderbitzin und seine Forscherkollegen aus Studien, die sie seit Jahren mit Testpersonen durchführen. «Bei uns ist die Textur wichtig», sagt der Forscher. Zerbrö- selt das Fruchtfleisch sofort auf der Zunge, ist es mehlig, rümpfen wir die Nase. Fest steht auch, dass wir süsssaure Sorten bevorzugen. Und würzige. Für Spanier hingegen können Äpfel nicht süss genug sein, oder dürfen auch mehlig sein. Sie kennen es nicht anders: Südländische Früchte reifen viel länger in der Sonne als unsere.

Warum immer Gala?
Nebst alle dem wundert man sich aber schon über die Apfel-Vorliebe von uns Schweizern. Was hat der Gala auf der Bestseller-Liste auf Platz eins zu suchen? Das fragt sich Inderbitzin auch: «Der Gala schneidet in Tests mit Versuchspersonen meist als eine der am wenigsten beliebten Sorten ab.» Erklä- rungen für diesen Widerspruch gibt es einige. Kenner der Branche vermuten, dass die Vermarktung eine Rolle spielt. Dass der Gala von den Detailhändlern meist zu attraktiven Konditionen angepriesen wird. Unter anderem als Aktion zu einem reduzierten Preis.

Unter Sensorikern geht man davon aus, dass es mit der Langeweile des Apfels zu tun hat. Der Gala gehört nicht zu den Aufmüpfigen: Er ist süss, alles andere als würzig sowie wässrig. «Das macht ihn bei Kindern beliebt. Er ist ganz anders als die Äpfel, die Inderbitzin jetzt aus den Kühlräumen holt. Sorgfältig schneidet er je ein Exemplar von Ladina, Natyra und Diwa zum Degustieren in Schnitze. Sie findet man weniger in den Läden. Aus einem einfachen Grund, wie die Coop-Sprecherin Andrea Bergmann sagt: «Das Kundenbedürfnis ist entscheidend.» Und dieses schreit nach Gala.

Ganz anders bei Inderbitzin, beim Apfelkenner. Gleich als Erstes wandert seine Hand zum Ladina. «Mein Lieblingsapfel», gesteht er und kommt ins Schwärmen, während er die Stücke zerbeisst. Das Fruchtfleisch sei schön knackig und saftig, das Aroma fruchtig, exotisch und der Geschmack der Schale leicht grün-grasig – obschon sie wunderbar rot gefärbt ist. «Ein interessanter Apfel.» Für den Laien klingt das fremd. Apfel ist Apfel. Das ist laut Inderbitzin ein weiterer Grund, weshalb der Gala so erfolgreich ist. «Die meisten Leute wissen gar nicht, warum sie einen Apfel mögen.» Wir wissen nicht, was ein Apfel alles kann, sagt er. Geschmacklich zumindest. Auch weil wir ausser süss, sauer und saftig kaum Worte dafür haben.

Eine Sprache für den Apfel
Dabei könnte es ganz anders sein. Längst könnten wir selbst Sensorik-Profis für Äpfel sein. Bei Agroscope haben die Forscher dem Apfel nämlich 2011 eine Sprache verpasst. Und zwar in Form eines Aromarads. Knapp 70 Geschmacksattribute sind rund um die Radnabe herum angeordnet.

Dank diesen können sogar sensorische Tollpatsche einen unspektakulä- ren Gala eloquent in den Himmel loben. Ihn also als fruchtig, grün, floral, würzig und laktisch (wie die Milch) beschreiben. So fruchtig wie eine Banane oder so floral wie Honig zum Beispiel. Oder ihn genauso wortgewandt als muffig wie Wachs, Seife oder Erde fertigmachen. Heute wird das Rad hauptsächlich für Sensorik-Tests in der Forschung verwendet. Uns Normalverbrauchern entgeht der Spass.

Auch weil die Lebensmittelhändler nicht auf den Aromarad-Zug aufgesprungen sind: Über süsslich, süsslichsäuerlich oder säuerlich kommen die Deklarationen an den Apfelkisten oft nicht hinaus. Eine ausführliche Sortenbeschreibung wie beim Wein fehlt. Weshalb eigentlich?

«Durch die Vielfalt des Aromarads ist der Anspruch an die Kunden höher. Viele wären damit überfordert», sagt die Migros-Sprecherin Monika Weibel. Daneben sei auch die Abbildung am Verkaufspunkt und auch auf der Etikette eine Herausforderung. Denn: Oft sei zu wenig Platz im Offenverkauf vorhanden. Die Informationen zu Preis, Gewicht, Herkunft würden höher gewichtet, räumt sie ein.