
Christoph «Heerus» Heer: «Auf Sansibar nennen sie mich Simba»


SERIE
Im Rahmen der Serie «Was macht eigentlich . . .?» haben Redaktoren dieser Zeitung mit Menschen gesprochen, die Schlagzeilen gemacht haben. Wir fragen nach, was sie heute machen, und schwelgen mit ihnen in Erinnerungen.
Herr Heer, wann wussten Sie, dass Sie auswandern wollen?
Ich habe immer gesagt, mit 55 würde ich auswandern. Dass ich tatsächlich mit 55 ausgewandert bin, war trotzdem Zufall (lacht).
Was war denn ausschlaggebend dafür, dass Sie die Koffer gepackt haben?
Ich war zuletzt frustriert über die Passivität der Piazza-Mitglieder, über das ständige Gemotze der Gewerbler, die nicht bei Piazza mitmachten. Und darüber, dass kaum jemand die Idee von «Piazza Underground» begriffen, geschweige denn unterstützt hat. Immer nur Widerstand! Und dann noch das Gerede von wegen «der Heerus verdient sich dumm und dämlich mit Piazza». Zur Information: Für mein 60%-Pensum bekam ich 2000 Franken im Monat. Ganz konkret hat es mir an der letzten Skulpturenausstellung abgelöscht. Die Ausstellung hat national viel Beachtung gefunden und zog viele auswärtige Besucher an, ich bekam viel Lob und Anerkennung, auch aus Künstlerkreisen. Von Piazza-Mitgliedern hingegen bekam ich Telefonanrufe wie «Chasch de Scheiss bi mir wider abruume» oder «Was söll dä Roschthuufe vor mim Lade?». Ich hatte schlicht die Schnauze voll von der kleinkarierten, destruktiven Mentalität der Zofinger. Ein Wechsel musste her. If life gets boring – risk it!
Jetzt leben Sie auf Sansibar, einer Insel vor der Ostküste Afrikas, etwas südlich des Äquators. Warum Sansibar?
Ich wollte immer auf eine Insel, da ist man schön weit weg von der Welt und was vorher wichtig schien, wird plötzlich unwichtig. Dass es Sansibar wurde, liegt daran, dass meine Frau aus der Gegend stammt.
Warum sind Sie denn so plötzlich verschwunden?
Nach besagter Skulpturenausstellung habe ich entschieden zu gehen, das war im Mai letzten Jahres. Eingeweiht habe ich nur meinen Sohn Milo, er war und ist mein Vertrauter, Berater und Freund, wir telefonieren fast jeden Tag. Er war bereits hier und wird diesen Sommer wieder kommen. Wäre Milo dagegen gewesen, hätte ich es sein lassen. Er fand, ich solle es tun, sonst würde ich es ewig bereuen. Dann ging alles sehr schnell, Milo und ich planten die Auswanderung generalstabsmässig und im Nachhinein kann ich sagen, wir haben wirklich an alles gedacht. Ende Juni war ich jedenfalls bereits weg. Ich habe bewusst einen unangekündigten Abgang gemacht, ich hatte keinerlei Lust auf Diskussionen und Erklärungen. Die «Piazza-Akte» habe ich natürlich mit allen Kontakten, Abrechnungen, grafischen Files und Anleitungen zu jedem Event – insgesamt 200 Gigabite Daten – hinterlassen, so dass es mich eigentlich gar nicht mehr braucht, um die Events durchzuführen. Das kann jetzt jeder, der Zeit, Engagement und eine Elefantenhaut mitbringt.
Wie lebt es sich denn auf Sansibar?
Sehr gut, ich geniesse jeden einzelnen Tag! Die Insel ist paradiesisch, im Südosten, wo wir leben, findet nur wenig und relativ angenehmer Tourismus statt. Die Menschen hier sind sehr herzlich und empfangen einen mit offenen Armen, aber gleichzeitig sind sie auch sehr arm, auch wenn kaum jemand hungert.
Ein ganz grosses Problem auf Sansibar ist die Korruption. Fahre ich mit dem Auto in die Stadt, werde ich auf der stündigen Fahrt sicher fünf Mal ohne Grund von der Polizei angehalten. Die Polizisten sind zwar freundlich, aber es wird schnell klar, dass sie einen kleinen Betrag erwarten, mit dem sie ihren schlechten Lohn aufbessern. Dasselbe auf den unzähligen Ämtern: Ohne etwas Schmiergeld läuft hier gar nichts. Mittlerweile bin ich mit den wichtigen Leuten bekannt – sie nennen mich übrigens wegen meiner langen, rotblonden Mähne Simba, das heisst Löwe (lacht) – und komme mit der ganzen Desorganisation und dem Chaos ziemlich gut zurecht. Mit einer typisch schweizerischen Mentalität überlebt man hier aber nicht lange, das steht fest. Ein geflügeltes Wort hier ist «Pole Pole!», was frei übersetzt etwa so viel heisst wie «schön ruhig, wir sind hier auf einer Insel»!
Wie darf man sich Ihren Tagesablauf auf Sansibar vorstellen?
Ich stehe meistens zeitig auf, so um halb sechs, und setze mich an den Computer, um ein wenig zu arbeiten – ich betreue immer noch einige Mandate von Schweizer Kunden. Zweite Hälfte Morgen fahre ich mit der Vespa ins Dorf, trinke einen Kaffee, plaudere ein wenig mit den Locals. Ihr Englisch ist zwar oft etwas rudimentär, aber wir können uns trotzdem verständigen. Oft stehen dann Behördengänge auf dem Programm, und die können wahnsinnig viel Zeit in Anspruch nehmen. Den Rest des Tages verbringe ich am Strand und geniesse das Leben.
Haben Sie konkrete Pläne?
Wir beginnen bald – zusammen mit Partnern – mit dem Bau unseres kleinen Resorts mit 2-Bedroom-Guesthouses, Pool, einem Local Restaurant und ein paar kleinen Shops à la «Piazza Underground». Als Kundschaft peilen wir Familien und vor allem Vespa-Freaks aus Europa an. Da helfen mir natürlich meine Kontakte in die gesamte europäische Vespa-Szene. Einer der Shops wird deshalb auch ein Mechaniker mit Vespa-Vermietung sein. Hier fahren tausende alter Vespas mit LML-Lizenz aus Indien rum, die Insel ist ideal für Vespa-Touren, sie ist flach, die Hauptstrassen sind ganz o.k. und die Distanzen sind angenehm: Um die Insel von Norden nach Süden abzufahren, braucht man etwa drei bis vier Stunden. Übrigens: Der «Simba Vespa Club Zanzibar» ist bereits in Gründung (lacht). Aber wie gesagt, hier dauert alles seine Zeit und man braucht reichlich Geduld. Und da ich ja Zeit genug habe hier, habe ich noch zwei Buchprojekte, die ich realisieren möchte.
Die Ideen gehen Ihnen also auch in der Ferne nicht aus?
Oh nein! Wir möchten auch einen Beitrag leisten zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und der Bildung. Die Kinder haben eine extrem schlechte Ausbildung, die lokalen Spitäler haben kaum Stethoskope, die Schulen nicht mal genug Kreide. Da wollen wir helfen. Einen der Shops mache ich selbst zum Cyber-Space. Touristen werden bezahlen müssen, lokale Kinder können gratis die Computer benutzen. Auch eine NGO möchte ich gründen, mit der ich Schul- und Spitalmaterial herbringen werde. Natürlich ganz ohne Profit. Lieferanten aus der Schweiz habe ich schon. Übrigens: 5 % der Einnahmen in unserem Restaurant werden in einen Pot zur Unterstützung lokaler Kinder fliessen, und als Personal werden wir selbstverständlich nur Einheimische anheuern.
Haben Sie bisher nie bereut, ausgewandert zu sein?
Nein, keine Sekunde. Ich vermisse natürlich ein paar Freunde aus Zofingen, doch der eine oder andere ist schon da gewesen oder kommt noch vorbei. Was mir wirklich leidtut, und das dürfen Sie gerne so schreiben: dass ich mit meinem unangekündigten Abgang Marco Steffen (Piazza) und Alexander Carstens (Underground) enttäuscht habe. Das sind wirklich zwei aussergewöhnliche und einzigartige Menschen mit grossem Herzen in Zofingen, die ich vermisse.
Wie wirkt Zofingen aus der Ferne auf Sie?
Zofingen wirkt aus der Ferne auf mich verstaubt, ideenlos, kleinkariert, missgünstig und verschlossen für Visionen.
Was denken Sie, wo sind Sie in fünf Jahren?
Hier natürlich! Das ist meine neue Heimat und Ideen für spannende Projekte habe ich noch reichlich.
