Dagmersellen: Eine Unachtsamkeit mit fatalen Folgen

Eine 35-jährige Mitarbeiterin einer sozialen Institution und Künstlerin wird von der Staatsanwaltschaft Sursee der fahrlässigen Körperverletzung beschuldigt. Sie soll im Mai 2018 einer Reiterin aus Luzern, um deren Pferde sie sich im Gestüt Chalberrain in Buchs kümmerte, ins Bein gelaufen sein. Die 63-jährige Designerin erholte sich damals gerade von einer Meniskus-Operation drei Wochen zuvor. «Durch die Wucht des Zusammenstosses wurde das Innenband im rechten Knie angerissen», heisst es in der Anklageschrift.

Die Frau erlitt eine höhergradige Partialruptur des medialen Kollateralbandes. Aufgrund des angerissenen Seitenbands habe sie über Wochen starke Schmerzen gehabt. Zudem kam es bei der Heilung zu Komplikationen (Baker-Zyste). Ob der Zusammenstoss der Grund war, habe nicht zweifelsfrei erstellt werden können, heisst es weiter. 

Mit einem genügenden Abstand zum Bein der Frau hätte die Beschuldigte die Knieverletzung verhindern können. Die Aargauerin soll nun gemäss Staatsanwaltschaft wegen fahrlässiger Körperverletzung zu einer bedingten Geldstrafe von 600 Franken und einer Busse von 150 Franken verurteilt werden und die Verfahrenskosten tragen. Weil sie den Strafbefehl nicht akzeptierte, kam die Sache diese Woche in Willisau vor Gericht.

Die Luzerner Privatklägerin erschien mit Krücken an der Verhandlung. «Ich bin seit dem Vorfall im Mai 2018 ziemlich eingeschränkt», sagte sie. Sie könne nicht arbeiten oder den Haushalt machen. Den Vorfall schilderte sie so: Sie sei mit der jüngeren Frau gemütlich auf einem Bänklein vor einem Bauernbrunnen gesessen, sie hätten über Pferde diskutiert. Die Beschuldigte habe in der Zeit ihrer Meniskus-Operation ihre zwei Tiere bewegt. «Ich sass mit ausgestrecktem rechtem Bein da und hielt dieses mit beiden Beinen fest», sagte die Luzernerin.

Der Platz zum Durchlaufen sei gross genug gewesen. Die andere Frau sei plötzlich aufgesprungen, Richtung Pferdeboxen, wo sie nichts zu suchen gehabt habe, und voll in ihr Bein gerannt. «Ich habe geheult und geschrien und sie gefragt, warum sie das gemacht hat.» Danach habe sie einen «Adrenalin-Kick» gehabt, sei selber mit dem Auto heimgefahren und zuhause zusammengebrochen. Wegen der Ostertage suchte sie erst einige Tage später einen Arzt auf.

Unterschiedliche Darstellungen

Völlig anders schilderte die Beschuldigte, ursprünglich eine Berufsreiterin, den Vorfall. Die Frau habe die Fussspitze am Boden gehabt und nicht hochgelagert. «Ich bin leicht angekommen mit meiner Fussspitze», sagte sie, «es war mir extrem peinlich und ich habe mich entschuldigt, dass ich den Fuss nicht gesehen habe.» Die Luzernerin habe bloss «Aua» gesagt. «Erzählt die Privatklägerin eine Lügengeschichte?», fragte sie der Richter. «So wie sie den Vorfall beschreibt, ist er nicht passiert», sagte die Angeklagte.

Ein Seitenaspekt am Prozess war der Besuch eines Pferdephysiotherapeuten, der sich an diesem Tag die Pferde der Luzerner Reiterin anschaute. Die jüngere Frau habe diesen kennenlernen wollen, so die Luzernerin, deshalb sei sie dort gewesen. Sie habe ihn nach seiner Telefonnummer gefragt, und ihm ihre angeboten. «Er wollte diese aber nicht.» Uneinig waren sich die Frauen, ob der Zusammenstoss vor oder nach dem Besuch des Therapeuten passierte.

Die Anwältin der Luzernerin schloss sich in ihrem Plädoyer den Forderungen der Staatsanwaltschaft an und verlangte eine Bestrafung. Ihre Klientin habe vor dem Zusammenstoss «aushaltbare Heilungsschmerzen» gehabt und sei auf dem Weg der Besserung gewesen. Sie zitierte medizinische Gutachten, wonach die Schmerzen heute weit stärker seien als nach der Operation 2018. Die neue Verletzung sei der alleinige Grund dafür. Die Beschuldigte sage nicht immer gleich aus, sagte die Anwältin der verletzten Frau. Wenn die Fussspitze am Boden gewesen wäre, hätte ihre Klientin kaum vor Schmerz geschrien.

Verteidiger bezweifelte medizinische Gutachten

Der Verteidiger der Beschuldigten verlangte einen Freispruch. «Der Ereignismechanismus ist ungeklärt», sagte er. Er bestritt die Glaubwürdigkeit der Ärzte der Luzernerin und bezeichnete diese als «Parteistellungnahmen». Zudem mute es eigenartig an, dass sie nach dem Vorfall noch Auto gefahren sei und erst Tage später einen Arzt aufgesucht habe. «Jeder normale Mensch geht dann ins Spital, insbesondere wenn er vorher eine Operation hatte.» 

Ob sie sich vielleicht später verletzt habe, fragte der Verteidiger. Der medizinische Sachverhalt sei für ihn ungenügend abgeklärt. Die Luzernerin weigere sich, Akten zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der «vielen Unklarheiten» sei seine Klientin freizusprechen. Das Urteil wird auf Wunsch der Parteien schriftlich eröffnet.