
Das Publikum ergötzte sich am Niedergang von Amy Winehouse: Die posthume Verehrung und der bittere Nachgeschmack
Heute, 10 Jahre nach ihrem Tod, ist sich die Fachwelt einig: Die britische Soulsängerin war das grösste Stimmwunder ihrer Generation. Aber auch in kommerzieller Hinsicht konnte der britischen Sängerin kaum jemand das Wasser reichen. Nur gerade Adele verkaufte in ihrer Heimat mehr Tonträger als die heute ikonisch verehrte Sängerin. Dabei war ihre Musik alles andere als neu. Ihre Inspirationsquellen waren Jazz und Soul der 50er- und 60er-Jahre, Sängerinnen wie Dinah Washington oder Sarah Vaughan, Sängerinnen, die wie Amy selbst durch den persönlichen Ausdruck, durch Individualität und Einzigartigkeit herausragten.
Die Erkenntnis: Pop braucht keinen Firlefanz, keinen technischen Schnickschnack und schon gar kein Autotune. Eine berührende, unnachahmliche Stimme genügt.

Eine unverwechselbare Stimme: Amy Winehouse – hier bei einem Auftritt in Brasilien.
Wie viele andere Pop-Genies vor ihr pendelte Amy Winehouse zwischen Kunst und Absturz. Wie Janis Joplin, Jim Morrison, Kurt Cobain und die anderen Vereinsmitglieder aus dem Club 27, erzählt ihre Biografie die Rock’n’Roll-Geschichte von Hedonismus und Exzess, von Depression und Selbstzweifeln. Aber noch nie zuvor wurde die Ambivalenz von Genie und Absturz in so grosse Kunst verwandelt: Das verruchte Timbre und die verschleppte Phrasierung verstärkten die musikalische Wirkung und steigerten ihre Einmaligkeit.
Man belustigte sich über die «zugedröhnte Schlampe»
Und vor allem: Noch nie zuvor wurde eine Geschichte der Selbstzerstörung so schamlos dokumentiert wie bei Amy Winehouse. Ihr ausschweifendes, zügelloses Leben war ein gefundenes Fressen für die Boulevard-Presse. Aber nicht nur: Auch das Publikum vergnügte sich an ihrem Absturz und ergötzte sich an ihrem Niedergang. Da wurde nicht ihre grosse, unnachahmliche Stimme gefeiert, vielmehr belustigte man sich über eine «zugedröhnte, torkelnde Schlampe mit verschmierter Schminke».

Amy Winehouse war stark drogenabhängig und wurde wegen Drogenbesitzes in der Schweiz sogar verhaftet.
Es passierte auch in der Schweiz: Als sie am 25. Oktober 2007 im ausverkauften Volkshaus in Zürich ihr letztes, denkwürdiges Konzert in der Schweiz gab. Alle wussten, dass sie zu jener Zeit stark drogenabhängig war. Wegen Drogenbesitzes wurde sie zuvor verhaftet und musste wegen ihrer schlechten Verfassung immer wieder Konzerte absagen. Aber nicht in Zürich. Amy war am Konzert offensichtlich unter Entzug, stand bockstill auf der Bühne und schlotterte am ganzen Körper. Sie hatte Absenzen, vergass einige Male den Text und rannte zweimal schluchzend hinter die Bühne. Doch sie gab nicht auf, biss sich durch, und in den besten Momenten kam ihre ausdrucksstarke Stimme sogar zur Geltung.
Doch statt die leidende Sängerin in ihrem Kampf zu unterstützen, wurde sie vom Publikum gnadenlos ausgebuht und ausgepfiffen. Eine künstlerische Exekution. Das Publikum ergötzte sich wie in einer römischen Arena am Absturz der Sängerin. Die Musik wurde zur Nebensache, und nach einer knappen Stunde war der Spuk ohne Zugabe vorbei. Das Schweizer Fernsehen, das den Absturz witterte und dokumentierte, sprach von einem tragischen Auftritt. Andere Medien berichteten, dass die Skandal-Nudel mit grosser Verspätung begonnen und das Konzert vorzeitig abgebrochen hätte. Beides stimmt nicht: Veranstalter Good News bestätigte dieser Zeitung, dass die Sängerin ihren Vertrag punktgenau erfüllte. Medien und Publikum wollten den Skandal und kriegten ihn.
Der Tod als künstlerische Rehabilitation?
Trägt die Öffentlichkeit eine Mitschuld an ihrem Schicksal? Wurde sie in den Tod getrieben? Wie wir heute wissen, war sie schon in ihrer Jugend depressiv und hat den seelischen Schmerz mit Alkohol und Drogen betäubt. «Ab da wurden für Amy Drogen zur Lösung aller Probleme», schreibt ihr Jugendfreund Tyler James im soeben erschienenen Buch «Meine Amy». Die sensationslüsterne Öffentlichkeit hat die selbstzerstörerische Ader der sensiblen und labilen Sängerin zumindest verstärkt.
Amy Winehouse hatte nicht mehr die Kraft, sich aus dem Skandal-Mechanismus und der fatalen Todesspirale zu befreien. «Sah sie in ihrem Tod, mit der letzten negativen Schlagzeile, die einzige Möglichkeit, den Fokus der Öffentlichkeit weg von den Skandalen und wieder auf ihre Musik und ihre unvergleichliche Stimme zu lenken? Gelingt ihr die postume ‹Rehab›?», fragte diese Zeitung damals im Nachruf auf Amy Winehouse. Die Lobeshymnen zum zehnjährigen Todestag bestätigen diese Vermutung. Doch die postume Verehrung hat einen bitteren Nachgeschmack.