«Der ist doch ein Grosser!»: So einfach kommen Jugendliche im Aargau an Alkohol und Zigaretten

Schon von weitem ist zu sehen: Die beiden Jugendlichen kehren mit vollen Händen zurück. Der 16-jährige Nick hält eine Flasche des vodkahaltigen Süssgetränkes Smirnoff in der Hand, die 13-jährige Martina (Namen geändert) hat ein grosses Bier dabei. Polizist Otto Schwizer ist nicht erfreut. «Nicht schon wieder!», brummt er in seinen Bart.

Es ist schon das zweite Mal diese Woche, dass Otto Schwizer von der Regionalpolizei Lenzburg eine Alkohol- und Tabaktestkauftour begleitet. Neun Betriebe in der Region Lenzburg werden heute getestet. Das Team besteht aus Salome Zuberbühler vom Blauen Kreuz, Nick und Martina, welche die Testkäufe durchführen, und Schwizer. Letztes Mal sei alles ziemlich reibungslos abgelaufen, die Jugendlichen seien kaum an Alkohol oder Zigaretten gekommen, sagt der Polizist. «Heute haben wir das Gegenteil.»

So läuft eine Alkohol- und Tabaktestkauftour ab

Seit 2008 führt das Blaue Kreuz Aargau/Luzern regelmässige Alkohol- und Tabaktestkäufe durch. Diese werden durch den Bund, die Gemeinden oder durch Verkaufsbetriebe/-verbände in Auftrag gegeben und finanziert. Ein Testteam besteht aus zwei Jugendlichen und einer Person vom Blauen Kreuz, meist begleitet von der Polizei. Die Jugendlichen führen die Testkäufe durch. Dabei ist eine U-16 Person für Tabak und Bier zuständig, eine U-18 Person für Spirituosen. Nach dem Kauf(versuch) berichten die Jugendlichen, was sie kaufen konnten, ob sie nach Alter und Ausweis gefragt wurden und ob es Hinweisschilder bezüglich Jugendschutz hatte. All dies wird protokolliert. Anschliessend geht der Polizist oder die Polizistin hinein und löst die Situation auf. Er oder sie erklärt, ob sich das Verkaufspersonal richtig verhalten hat und verteilt, falls nicht vorhanden, Hinweisschilder zum Jugendschutz. Gebüsst wird niemand; es geht um Aufklärung und Sensibilisierung. (aka)

Bei der ersten Station, einem Lebensmittelgeschäft in der Region Lenzburg, fängt es schon an. «Nur Bier, keine Spirituosen oder Zigaretten», lautet der Auftrag. Also ist Martina gefragt. In Begleitung von Nick, der sich eine Cola aussucht, versucht sie, ein Bier zu kaufen. Und tatsächlich: Die 13-Jährige kommt problemlos an das alkoholische Getränk.

Scham, Ungläubigkeit und Wut: So reagieren die Erwischten

Ausser Sichtweite des Ladeneingangs warten Schwizer und Zuberbühler im Auto. Zurück bei ihnen müssen Nick und Martina fürs Protokoll mehrere Fragen beantworten. «Wurdest du nach dem Alter gefragt? Musstest du einen Ausweis zeigen? Hatte es Hinweisschilder bezüglich Jugendschutz?», fragt Salome Zuberbühler. Die Antworten notiert sie auf einem Formular.

Salome Zuberbühler protokolliert die Testkäufe.

Salome Zuberbühler protokolliert die Testkäufe.

Alex Spichale

«Und nun zur Person, die euch etwas verkauft hat: War sie männlich oder weiblich? Wie hat sie ausgesehen?» Diese Angaben sind für Otto Schwizer wichtig. Denn nun kommt sein Einsatz: Nach dem Kauf geht er ins Geschäft und löst die Situation auf. Schwizer, der als Polizist und Fachstellenleiter Gastgewerbe die meisten Ladeninhaber und Wirte kennt, stellt sich vor und zeigt seinen Ausweis. Er erklärt, dass soeben ein Testkauf stattgefunden habe. Bei jenen, die den Test nicht bestanden haben, stösst Schwizer auf unterschiedliche Reaktionen: von Scham über Ungläubigkeit bis zu Wut.

Im vorliegenden Fall kann der Ladenbesitzer kaum glauben, dass ihm ein solcher Fehler passieren konnte. «Das ist mir extrem peinlich. Ich habe nur die Cola gesehen, ich habe gar nicht bemerkt, dass sie ein Bier hat», erklärt er sich. Dass seine Aussage wohl stimmt, zeigt die Tatsache, dass er wirklich zwei Colas verrechnet hat.

Eine kleine Unaufmerksamkeit reicht

«Er hatte sicher nicht die Absicht, sich am Alkoholverkauf zu bereichern», beurteilt Otto Schwizer die Situation, «es war offensichtlich, dass es ihm hinten und vorne nicht recht war.» Aber der Fall zeige auch exemplarisch, wie schnell ein unrechtmässiger Alkoholverkauf passieren könne – es reicht eine kleine Unaufmerksamkeit. Schwizer:

«Es geht uns nicht darum, jemanden anzuschwärzen oder Bussen zu verteilen. Vielmehr wollen wir das Verkaufspersonal auf das Thema sensibilisieren.»

Weiter geht’s auf der Testkauftour. Der nächste Betrieb, der getestet wird, ist ein Take-away. «Bier und Spirituosen», lautet der Auftrag an Nick und Martina. Und wieder kehren die zwei mit vollen Händen zurück. Otto Schwizer ist konsterniert: «Das Resultat zeigt halt, wie die Realität ist und dass Sensibilisierung und Aufklärung nötig sind.» Das Verkaufspersonal rügen zu müssen, macht dem Polizisten der Repol Lenzburg gar keine Freude:

«Es wäre schöner, wenn ich sagen könnte: Super, Sie haben sich vorbildlich verhalten.»

So geht er hinein und klärt auf. Sofort kommt der Chef aus dem Hintergrund an die Ladentheke. Nicht er hat den Alkohol verkauft, sondern sein junger Angestellter – dieser erklärt, es seien soeben drei Aufträge eingegangen und vor lauter Stress habe er nicht daran gedacht, einen Ausweis zu verlangen. Der Chef beteuert: «Wäre ich da gewesen, dann wäre das nicht passiert. Ich verlange immer einen Ausweis.» Während des Lenzburger Jugendfestes kämen immer viele Jugendliche und würden versuchen, an Alkohol oder Zigaretten zu kommen. «Da ist bei mir nichts zu holen», ergänzt er.

«Mit Bravour bestanden»: Im Chlistadt Kafi wird Jugendschutz eingehalten

Der nächste Testbetrieb ist das Lenzburger Chlistadt Kafi. Hier sollen Nick und Martina alles einkaufen – also Zigaretten, Bier und Spirituosen. Und endlich gibt es ein Erfolgserlebnis: Die beiden haben nichts bekommen. «Die Wirtin hat uns nach dem Alter gefragt und einen Ausweis verlangt», berichtet Martina. «Danach sagte sie, sie dürfe uns nichts verkaufen.»

Wirtin Marianne Hardegger hat den Test mit Bravour bestanden und bekommt Lob von Polizist Otto Schwizer.

Wirtin Marianne Hardegger hat den Test mit Bravour bestanden und bekommt Lob von Polizist Otto Schwizer.

Alex Spichale

Endlich darf Otto Schwizer ein Lob aussprechen. «Mit Bravour bestanden», lobt er Marianne Hardegger, die Inhaberin des Chlistadt Kafis. Er bedankt sich bei der Wirtin, dass sie den Jugendschutz so gut umsetze. Marianne Hardegger ist es wichtig, lieber einmal mehr als weniger den Ausweis zu verlangen – auch wenn sich viele angegriffen fühlen, die zum Alkoholkauf berechtigt sind: «Oftmals ist es schwer einzuschätzen, ob jemand noch im Schutzalter ist oder nicht», meint die Wirtin. Auch bei Nick war sie sich nicht sicher: «Ich hätte ihm geglaubt, dass er schon 18 ist», so Hardegger. Sie hat trotzdem einen Ausweis verlangt, denn:

«Als Erwachsene haben wir eine Verantwortung gegenüber den Jugendlichen, dass sie nicht in eine Sucht geraten.»

Dann geht es zurück zum Auto. Zurück zu Nick und Martina. Beide sind nicht zum ersten Mal als Testkäufer im Einsatz. «Es ist ein cooler Nebenjob und erst noch für eine gute Sache», erklärt Nick. Die meisten seiner Kollegen wissen von seinem eher ungewöhnlichen Nebenjob – «und sie finden es gut», so Nick. Das Testkaufen sei aber auch ganz schön anstrengend: «Wir müssen so tun, als wären wir ganz normal und unbeschwert unterwegs, und dabei auf ganz viele Dinge achten.»

Warum Nick das Verkaufspersonal auf eine echte Probe stellt

Der gross gewachsene 16-Jährige sieht älter aus, als er tatsächlich ist. Das macht ihn zu einem guten Testkäufer, der das Verkaufspersonal auf eine echte Probe stellt. So auch bei der nächsten Station, einem Supermarkt: Während Martina die Zigaretten und das Bier verweigert werden, ergattert Nick wiederum ein Smirnoff. Als die Verkäuferin über sein Alter aufgeklärt wird, ruft sie: «Aber der ist doch ein Grosser!»

Was Nick und Martina an diesem Abend fürs Blaue Kreuz machen, sind sogenannte verdeckte Testkäufe. Das heisst, die Läden und Gastrobetriebe werden nicht direkt vorgewarnt. «Aber sie wissen von der Polizei und aus den Medien, dass immer wieder Testkäufe stattfinden», erklärt Otto Schwizer. Wer durchfällt, bekommt bestimmt wieder Besuch von den Testkäufern.

Die Auswertung ergibt eine erschreckend hohe Quote

Das trifft auf die meisten Betriebe zu, die an diesem Abend getestet wurden. Die Auswertung ist alles andere als erfreulich: Insgesamt waren es 20 Kontrollen in den Bereichen Tabak, Bier und Spirituosen, in 16 Fällen kamen Nick und Martina an die Zigaretten und den Alkohol heran. Das macht eine erschreckende Quote von 80 Prozent. «Heute war aber auch ein extremer Tag», bilanziert Otto Schwizer.

Das bestätigt auch Salome Zuberbühler vom Blauen Kreuz. Der Durchschnittswert der letztjährigen Testkäufe im Kanton Aargau liege bei 43 Prozent. «Teilweise bin ich sehr erstaunt, an was die Jugendlichen alles rankommen», sagt Zuberbühler. Die Schweizer Regelung, dass das Verkaufspersonal selbst entscheiden muss, ob es einen Ausweis verlangt oder nicht, findet sie nicht optimal:

«Es wäre besser, das Zeigen des Ausweises einfach obligatorisch zu machen.»

Zuberbühler nennt die zwei Ziele, die das Blaue Kreuz mit den Testkäufen verfolgt: Sensibilisierung und Datenerhebung. «Die erhobenen Daten helfen, Probleme zu erkennen und eine effektive Präventionsarbeit zu leisten», erklärt sie. Das Fazit des Abends zeigt: Die Testkäufe und diese Arbeit sind dringend nötig.