
Der Schweizer Armee fehlen die Militärärzte – ist die Grundversorgung der Truppen gefährdet?
Letzte Woche sind wieder die Rekruten in den Kasernen eingetroffen. Mehr als 11500 Armeeangehörige leisten ihren Militärdienst und meistern alle Arten von psychischen und körperlichen Herausforderungen. Wohl wissend, dass sie im Falle eines Unfalls Hilfe bekommen.
Doch medizinische Versorgung kann die Armee nicht mehr die gleiche bieten wie zu früheren Zeiten. Denn es gibt nicht mehr genügend Militärärzte. Hinzu kommt die steigende Nachfrage nach Arztkonsultationen in der Armee. Viele leichte Krankheiten gelten heute nicht mehr als zwingender Grund für Dienstuntauglichkeit. Laut internen Berichten nimmt deshalb auch der Schweregrad der Gesundheitsprobleme zu, was die Situation weiter verschärft.
Die Armee versucht das Problem zu lösen, indem sie zivile Ärzte anstellt. Momentan arbeiten 44 festangestellte Ärztinnen und Ärzte in verschiedener Funktion fürs Militär. Dazu kommen 30 Ärztinnen, die vom Rotkreuzdienst zur Verfügung gestellt werden und zahlreiche Mandatsärzte, die nach jeweiligem Bedarf eingesetzt werden.
Doch diese Ärzte kosten mehr als übliche Militärärzte. Der klassische Militärarzt ist sonst nämlich ein junger Mediziner, der gerade das Studium abgeschlossen hat und in der Armee seinen eigenen Dienst für einen kleinen Lohn leistet.
Fast niemand will Militärarzt werden
Dass dem Militär Ärzte fehlen, erklärt Armeesprecher Daniel Reist mit der tiefen Tauglichkeitsrate von 59 Prozent bei Maturanden. Reist sagt weiter:
«Ein Teil der Studierenden hat keine Schweizer Staatsbürgerschaft und ist damit nicht dienstpflichtig.»

Daniel Reist
Armeesprecher
Ausserdem seien mittlerweile über 70 Prozent der Medizinstudierenden Frauen und damit ebenfalls nicht dienstpflichtig.
Doch diese Ausführung alleine kann den Mangel nicht erklären. Laut aktuellen Zahlen starten jedes Jahr um die 650 Männer mit dem Medizinstudium in der Schweiz. Von diesen leistet aber weit weniger als jeder siebte Dienst als Arzt in der Armee. Gründe für diese tiefe Quote liegen in der Ausbildung. Denn wer Medizin studieren und gleichzeitig Militärarzt werden will, ist gegenüber nicht-dienstleistenden Konkurrenten benachteiligt.
Dies, weil der RS-Start traditionell immer eine oder zwei Wochen vor der Aufnahmeprüfung fürs Medizinstudium stattfindet. Militärarzt-Kandidaten müssen für diese Prüfung aus der ersten oder zweiten RS-Woche abrücken. Sie erhalten vor der Aufnahmeprüfung fürs Medizinstudium zwar ein bis zwei Tage Urlaub.
Doch die erste RS-Woche hat es meist in sich. Nicht wenige beklagen sich über Schlafmangel oder sind wegen der Eingewöhnungszeit an die militärischen Umgangsformen psychisch angeschlagen.
Es könnte daher schwieriger sein, beim Medizinertest die gleichen Resultate abzuliefern, wie die ausgeruhten Kollegen, die keinen Militärdienst leisten. Insbesondere weil bei der Prüfung tagesformabhängige Fähigkeiten wie Konzentration oder Merkfähigkeit speziell geprüft werden.
Dazu meint Armeesprecher Reist:
«Die Kaderschulen der Sanitätstruppen sind sich der Situation bewusst.»
Die Armee pflege den Kontakt zu den Universitäten und unterstütze angehende Militärärzte in der Vorbereitung auf den Eignungstest fürs Medizinstudium, etwa mit persönlichem Urlaub vor der Prüfung. Aus Sicht der Armee gebe es wegen der militärärztlichen Ausbildung aber keine Nachteile für Anwärterinnen und Anwärter.
Ein weiterer Grund für die Unbeliebtheit der Ausbildung: Wer sich dafür entscheidet, verpflichtet sich, im Militär weiterzumachen. Militärärzte müssen mindestens bis zur Stufe Leutnant aufsteigen. Das bedeutet, dass sie insgesamt fast eineinhalb Jahre ihres Lebens im Dienst der Armee verbringen müssen. Eine abgekürzte Variante ohne Weitermachen gibt es heute nicht.

Militärärzte sind für Notfallsituationen speziell ausgebildet. Die Kurse nehmen aber viel Zeit in Anspruch.
Grundversorgung ist kompliziert geworden
Doch kann die Armee die medizinische Grundversorgung mit den immer weniger werdenden Medizinern überhaupt gewährleisten? Momentan sind in der gesamten Milizformation nur noch 600 Ärztinnen und Ärzte eingeteilt. Armeesprecher Reist sagt:
«Die individuelle und fachgerechte medizinische Versorgung wird, wo notwendig, mit Leistungen aus dem zivilen Gesundheitswesen ergänzt.»
Armeeangehörige müssen unter gewissen Umständen also in normale Spitäler oder Arztpraxen ausweichen.
Im Falle einer Krise könnte das zum Problem werden, zum Beispiel, wenn alle Plätze auf den Intensivstationen besetzt sind und Angehörige der Armee spezielle Pflege brauchen, die sie in Armeespitälern nicht mehr erhalten können. Zumindest während der Covid-Pandemie war das nie der Fall. Die Armee hat laut Sprecher Reist die medizinische Versorgung immer autonom sicherstellen können. Einige Militärärzte habe man sogar dispensieren können, weil sie in ihrer zivilen Funktion dringender gebraucht wurden.
Rein zahlenmässig kann die Armee im Falle einer schlimmeren Krise aber keine Ärzte entbehren, ohne dass die Gesundheitsversorgung der Armeeangehörigen leidet. Im nationalen Durchschnitt werden in der Schweiz 1000 Einwohner von 4,4 Ärzten versorgt. In der Armee, die laut Gesetzesauftrag in einer Krisensituation auch medizinisch aushelfen soll, ist die Ärztedichte mit 4,5 Ärzten pro 1000 Armeeangehörigen etwa gleich hoch. Zivilen Spitälern kann also kaum mit zusätzlichen Ärzten ausgeholfen werden.
Militärärztemangel auch andernorts
Die deutsche und die amerikanische Armee hatten in den letzten Jahren zeitweise ebenfalls einen Mangel an Ärzten. In diesen Ländern löste man den Mangel mit einer Ausbildungsoffensive. Die Armee vergab dort Stipendien und Studienplätze an Junge, die sonst keine Möglichkeit gehabt hätten, Mediziner zu werden.
Auch in der Schweiz wären genügend willige Kandidaten vorhanden, wenn es denn genügend Studienplätze gäbe. Schliesslich melden sich jedes Jahr mehr als dreimal so viele Kandidaten fürs Medizinstudium an, wie Plätze vorhanden sind.