
Der Schweizerpsalm: zu religiös, zu langweilig, zu verstaubt?
Alberik Zwyssig
Alberik (zu finden sind auch die Varianten Alberich oder Alberic) Zwyssig wurde am 17. November 1808 in Bauen UR geboren. Als 13-Jähriger ist Zwyssig Lateinschüler und Sängerknabe in der Schule des Zisterzienserklosters Wettingen. Von 1826 bis 1827 Novize, 1827 Profess, 1832 Priesterweihe und Stiftskapellmeister.
Zwischen 1832 und 1841 schuf Zwyssig ein umfangreiches musikalisches Werk mit liturgischem Charakter.
Nach der Aufhebung des Klosters Wettingen im Januar 1841 lebte er bei seinem jüngsten Bruder Peter Josef Zwyssig in Zug. Hier entstand im Herbst 1841 der Schweizerpsalm. Von 1847 bis 1854 wirkte er als Musiklehrer im Zisterzienserinnenkloster Mariazell in Wurmsbach (bei Rapperswil).
Im Sommer 1854 zog Zwyssig in das vom letzten Wettinger Abt Leopold Höchle gegründete Kloster Wettingen-Mehrerau bei Bregenz, wo er am 18. November 1854 an einer Lungenentzündung starb. (hls/pmn)
Trittst im Morgenrot daher, seh ich dich im Strahlenmeer.» Die erste Zeile des Schweizerpsalms ist wohl allen Schweizern geläufig, aber dann ist schon bald Schluss. Die Melodie hingegen dürfte um einiges bekannter sein. Sie wird schliesslich nicht nur an 1.-August-Feiern gespielt, sondern auch bei internationalen Sportereignissen oder immer noch täglich kurz vor Mitternacht auf Radio SRF 1.
Doch es ist noch nicht so lange her, da waren Text und Melodie der Schweizer Landeshymne völlig anders. Ältere Generationen mögen sich wahrscheinlich noch daran erinnern, «Rufst du, mein Vaterland» gesungen zu haben. Zur Melodie der englischen Königshymne God save the King (oder Queen, je nachdem, wer auf dem Thron sitzt) lautete die erste Strophe so: «Rufst du, mein Vaterland, sieh uns mit Herz und Hand, all dir geweiht heil dir, Helvetia! Hast noch der Söhne ja, wie sie Sankt Jakob sah, freudvoll zum Streit!» 1961 sollte sich dies ändern.
Der Schweizerpsalm ist eine überkonfessionelle Arbeit
Der Zisterziensermönch Alberik Zwyssig (Biographie siehe Box) erhielt im Sommer 1841 von seinem Zürcher Bekannten Leonhard Widmer (1809–1867) – einem Reformierten – einen patriotischen Liedtext zur Vertonung. Die erste Strophe des Widmerschen Gedichtes lautete so: «Trittst im lichten Morgenrot daher, Hocherhabener! Und ich such in seinem Strahlenmeer dich, du Herrlicher! Wenn die Firn sich rötet, betet, Schweizer, betet! Nahe, nahe ist euch Gott in der Berge Morgenrot! Ja, die fromme Seele ahnt Gott im hehren Vaterland.»
Es ist im Vergleich zum heutigen Hymnentext leicht zu erkennen, dass Zwyssig das Gedicht radikal geändert hat. Der Grund: Er wählte als Melodie das Graduale «Diligam te Domine» (Ich will dich lieben, Herr) aus der C-Dur-Messe, die er 1835 für die Pfarrinstallation von Placidus Bumbacher komponiert hatte. Damit der Text überhaupt zur rhythmischen Struktur des Graduale passte, musste Zwyssig das Versmass verändern. Das hat er daraus gemacht (Transkription der Handschrift rechts): «Trittst im Morgenroth daher, seh ich dich im Strahlenmehr, dich du hocherhabener; herrlicher! Wen[n] der Alpenfirn sich röthet, bethet freie Schweizer, bethet. Eure from[m]e Seele ahnt, Eure from[m]e Seele ahnt. Gott im hehren Vaterland, Gott im hehren Vaterland.»
Am 22. November 1841, nach monatelanger Arbeit, probte Zwyssig den Schweizerpsalm in Zug zum ersten Mal. Bereits 1843 erschien das neue Vaterlandslied im «Festheft der Zürcher Zofinger für die Feier der Aufnahme Zürichs 1351 in den Schweizerbund». Mit «Zofinger» ist übrigens die Zofingia gemeint, die älteste Studentenverbindung der Schweiz. Im gleichen Jahr wurde es am Eidgenössischen Sängerfest in Zürich vorgetragen und vom Publikum mit Begeisterung aufgenommen.
Das populäre Lied wird zur Landeshymne
Bei den Männerchören wurde der Schweizerpsalm schnell heimisch, dank Übersetzungen auch bald in den romanischen Sprachgebieten, und umrahmte häufig patriotische Feiern.
Zwischen 1894 und 1953 wurden immer wieder Vorstösse unternommen, den Schweizerpsalm zur offiziellen Landeshymne zu erklären. Dieses Ansinnen lehnte der Bundesrat jedes Mal mit der Begründung ab, dass eine Nationalhymne nicht durch behördliches Dekret eingeführt, sondern vom Volk durch den regelmässigen Gebrauch frei gewählt werden sollte.
Das weiter oben bereits erwähnte «Rufst du, mein Vaterland» war gleichermassen populär wie der Schweizerpsalm. Der von Johann Rudolf Wyss 1811 gedichtete Text wurde auf der Melodie der englischen Königshymne gesungen. Das führte im Laufe des
20. Jahrhunderts, als die internationalen Kontakte stark zunahmen, zu mitunter peinlichen Situationen beim Abspielen der melodisch gleichklingenden Nationalhymnen Englands und der Schweiz. Also beschloss der Bundesrat 1961, den Schweizerpsalm provisorisch für drei Jahre als offizielle Landeshymne einzusetzen.
Nach der Probezeit sprachen sich zwölf Kantone zugunsten des Schweizerpsalms aus, während sieben für eine verlängerte Probezeit plädierten, und nicht weniger als sechs das Lied ablehnten. Trotz des zwiespältigen Ergebnisses wurde 1965 die vorläufige Anerkennung des Schweizerpsalms als Landeshymne bestätigt. Zwar gingen in der Folgezeit mehrere Vorschläge für einen neuen Nationalgesang in Bern ein. Dem Schweizerpsalm stand jedoch keine andere Komposition gegenüber, die auch nur annähernd so viele Stimmen auf sich vereinigen konnte. Also erklärte der Bundesrat am 1. April 1981 den Schweizerpsalm zur Landeshymne, mit der Begründung, er sei «ein rein schweizerisches Lied, würdig und feierlich, so wie eine Grosszahl unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger sich eine Landeshymne wünschen».
«35 Jahre sind genug», schreibt die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft (SGG), als sie 2016 den Sieger ihres Hymnenwettbewerbs vorstellt. Zwei Jahre zuvor hatte die SGG einen Künstlerwettbewerb für einen neuen Hymnen-Text initiiert. Der Text sollte auf der Präambel der Bundesverfassung von 1999 basieren, welche die zentralen Werte der heutigen Schweiz enthält: Demokratie, Einheit, Vielfalt, Freiheit, Frieden, Solidarität, Unabhängigkeit sowie Sorge für die Umwelt, für die sozial Schwachen und für die künftigen Generationen.
«Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund»
Aus 208 eingereichten Beiträgen wurde der Beitrag des Musiklehrers und Gesundheitsökonomen Werner Widmer zum Sieger gekürt. Der Text wird zur unveränderten Melodie des Schweizerpsalms gesungen und lautet: «Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund: Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden. Offen für die Welt, in der wir leben, lasst uns nach Gerechtigkeit streben! Frei, wer seine Freiheit nützt, stark ein Volk, das Schwache stützt. Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Schweizer Bund.»
Neben den Texten in den vier Landessprachen liess die SGG eine zusätzliche Variante kreieren, die sogenannte «Schweizer-Strophe». Hier wechseln sich die Landessprachen jeweils nach zwei Versen ab: «Weisses Kreuz auf rotem Grund, unser Zeichen für den Bund: Freiheit, Unabhängigkeit, Frieden. Ouvrons notre coeur à l’équité et respectons nos diversités. Per mintgin la libertad e tuts la gistadad. La bandiera svizzera, segno della nostra libertà.» Diese Variante eigne sich besonders für internationale Sportanlässe, wo Schweizer aus allen Landesteilen zusammen sind, schreibt die SGG dazu.
Auf die Kritik, warum er die erste Zeile der Präambel («Im Namen Gottes, des Allmächtigen!») aussen vor gelassen habe, sagt Werner Widmer: «Eine Nationalhymne kann heute kein Glaubensbekenntnis mehr sein. Aus jüdischer und christlicher Sicht beinhaltet der Text mit Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und die Schwachen stützen Begriffe und Werte, mit denen Gottes Wille in der Bibel beschrieben wird. All diese Werte können auch von nicht religiösen Menschen gesungen werden.»
Ob der Beitrag von Werner Widmer je zur offiziellen Landeshymne der Schweiz werden wird, ist offen. Zuerst müsse er eine breite Akzeptanz haben, schreibt die SGG. Dieser Prozess könne Jahre dauern. Zwyssig kann das egal sein. Seine Melodie bliebe weiterhin.