
«Der Täter ist oft jemand ganz aus der Nähe»: Ehemalige Gerichtsreporterin schreibt über wahre Verbrechen
Autorin und Buch
Die gebürtige Burgdorferin Christine Brand (48) war viele Jahre als Gerichtsreporterin tätig, bevor sie eine erfolgreiche Buchautorin wurde. Dieses Jahr erschien ihr Krimi «Der Bruder», der dritte Fall mit dem Protagonistenpaar Mila Nova und Sandro Bandini. Ebenfalls dieses Jahr publizierte sie «Bis er gesteht», eine teils fiktionale Verarbeitung eines doppelten Kindsmordes von 2007 im Kanton Zürich. In ihrem neuen Buch «Wahre Verbrechen» berichtet sie über sechs Fälle, die sie als Gerichtsreporterin erlebt hat. So über den Vierfachmord von Rupperswil, den Todespfleger, der über 100 Menschen tötete, oder den Musiklehrer, der 16 Menschen HIV-Blut spritzte. (are)
Sechs Fälle schildern Sie in Ihrem Buch «Wahre Verbrechen». Weshalb gerade diese? Gibt es eine Gemeinsamkeit, die Sie bewegt hat?
Christine Brand: Die Gemeinsamkeit ist, dass der Täter nicht der böse Fremde ist, der von weit her in eine heile Welt eindringt. Nein, er kommt selber aus dieser heilen Welt: Es ist der Mann aus der Nachbarschaft, der Pfleger im Spital, der Kollege, der Ehemann, der Musiklehrer. In jedem Fall haben die Opfer den Tätern vertraut, was auf die schlimmste Weise missbraucht wurde. Andererseits spielen sich die Fälle in ganz unterschiedlichen Milieus ab. Und haben verschiedene Perspektiven: auf den Täter, die Opfer oder die Ermittler.
Politologin Hannah Arendt hat in Bezug auf den Nazi-Verbrecher Eichmann von der «Banalität des Bösen» gesprochen. In Ihrem Buch wirken die Täter oft rational, indem sie ihre Taten begründen und analysieren. Alles Deckmantel über dem Bösen?
Ich denke nicht, dass bei den Tätern vor Gericht «Vernunft» eingekehrt ist. Sie wirken nicht erst dort erschreckend normal, sondern schon vor der Tat. Fast immer fallen danach Bekannte und Nachbarn aus allen Wolken. Ein Täter ist ein Mensch. Der eine ungeheure Handlung begangen hat. Es sind oft bestimmte Umstände, die dazu führen. Wenn Täter vor Gericht stehen, haben sie bereits einen langen Prozess hinter sich. Sie erkennen, welche Konsequenzen sie tragen müssen. Da kommt natürlich Reue auf. Oder Selbstmitleid, weil man nun bestraft wird.
Im Falle des «Todespflegers» ist man fast ebenso zornig auf die Ärzte und Co., die so lange die Augen zugemacht und viele Opfer mitverschuldet haben. Wurden oder werden auch diese «Täter» strafrechtlich verfolgt?
Auch ich war im Gericht wütend auf die Verantwortlichen der Spitäler, die wegschauten, statt weitere Taten zu verhindern. Fast wütender als auf den Täter. Gegen wenige Personen in leitenden Positionen der beiden Spitäler, wo Niels H. gearbeitet und getötet hat, sind Verfahren eröffnet worden. Einige wurden wieder eingestellt, weil die Vorwürfe verjährt waren. Acht Personen werden aber Anfang 2022 vor Gericht gestellt.
In einem anderen Fall fällt auf, wie der Täter stufenweise immer Schlimmeres tut. Wie die Hemmschwelle nach jeder Tat kleiner wird. Zuerst geht’s um Geld. Dann findet er Geschmack an der Gewalt an sich: Ist das typisch?
Ich war an mehreren Prozessen, bei denen diese Entwicklung zu beobachten war: Die Beschuldigten fingen mit kleinen Delikten an, blieben unentdeckt, wurden mutiger, die Delikte steigerten sich. So gab es in Bern einen Mordfall, in dem eine Gruppe Jugendlicher in den Wald fuhren und einen Bekannten erschossen. Sie begannen mit dem Knacken von Automaten, dann klauten sie Autos, dann überfielen sie einen Kiosk. Und irgendwann hatten sie die Idee, dass sie jemanden töten könnten.
In einem Fall geschieht ein unfassbarer Gewaltausbruch unter Drogeneinfluss. Da fällt eine heikle Frage auf: Ist das Verschulden wegen der Drogen vermindert? Obwohl der Täter wusste, dass er unter Drogen gewalttätig ist?
Nach heutiger Rechtsprechung gilt die Schuldfähigkeit als vermindert, wenn ein Täter unter Drogen im Zustand einer Psychose stand. Weil er dann seine Schuld nicht erkennen kann. In besagtem Fall ist das besonders heikel, weil der Täter bereits vor dem Mord unter Drogen gefährlich wurde. Kürzlich hat das Bundesgericht das milde Urteil des Obergerichts für ungültig erklärt. Auch weil sich Letzteres auf Aussagen des Täters gestützt habe, die er nur gegenüber dem Psychiater gemacht hat. Es stellt sich also noch eine ganz andere Frage: Litt der Täter tatsächlich an einer Psychose? Oder ob er dies nur sagte, weil er auf eine mildere Strafe hoffte.

Die Berner Autorin Christine Brand im Porträt.
Das Motiv des Musiklehrers, der vielen Menschen das HI-Virus gespritzt hat, bleibt rätselhaft. Macht? Rache an denen, die ihm nicht (mehr) willfährig waren? Auch fällt auf, wie lange einige Opfer diese sehr einseitigen Beziehungen mitgemacht haben.
Es gibt Fälle, die versteht man einfach nicht. Natürlich hat die Tat mit der Persönlichkeit des Täters zu tun, der sich als eine Art Heiler und Heiliger verstand. Aber wieso er Schüler mit HIV infizierte, ist schleierhaft. Aus Sicht der Opfer muss der Täter eine sehr einnehmende Art gehabt haben. Hinzu kommt, dass fast alle seine Opfer in instabilen Lebenssituationen waren: in Krisen, auf der Suche nach sich selber. Einige Opfer schwärmten noch im Gericht von ihm.
Es ist wohl kein Zufall, dass alle Täter in den von Ihnen geschilderten Fällen männlich sind – mit Ausnahme der Helferin. Verüben Frauen solche Taten praktisch nie?
Gewalttaten werden viel seltener von Frauen begangen. Und wenn, sind sie meist anders gelagert. Oft sind es Kindstötungen aus Verzweiflung. Ich habe selber einige wenige Gewalttäterinnen vor Gericht erlebt.
Finden Sie, dass in der Mehrheit der Fälle, die Sie mitverfolgt haben, Recht gesprochen worden ist? Im Wissen, dass damit nicht auch zwingend Gerechtigkeit möglich ist und viele Fälle kaum gesühnt werden können?
Ja, ich finde, dass in den meisten Fällen Recht gesprochen wurde. Und dass in der Schweiz das Justizsystem im Grossen und Ganzen funktioniert. Ein Urteil kann nicht Gerechtigkeit schaffen, aber es kann die Rechtsordnung wieder herstellen. Die Vergeltung steht im Hintergrund – die Strafe soll vielmehr dem Betroffenen aufzeigen, dass sein Unrecht nicht akzeptiert wird.
Beim Lesen des Buches entsetzt vieles. Und berührt mit Blick auf die Opfer. Aber es ist auf gruselige Art auch unterhaltsam. Was ist der Sinn einer solchen Lektüre? Bedient sie nicht eher einen gewissen Voyeurismus, wie immer bei «True Crime»?
Ja, Voyeurismus treibt uns an, solches zu lesen und zu schauen. Man denke nur an den früheren Erfolg der «Aktenzeichen XY»-Sendung. Sie sind aber auch ein Zeitzeugnis, halten der Gesellschaft einen Spiegel vor, der ihr ihre Schattenseiten zeigt. Nehmen wir den Terroranschlag in Paris, zu dem nun der Gerichtsprozess läuft: Das ist Teil unserer Geschichte. Und es ist wichtig, darüber zu berichten. Auch um abschreckend zu wirken: Die Gesellschaft soll sehen, dass derjenige, der Böses tut, nicht ungeschoren davonkommt.

- Christine Brand
- Wahre Verbrechen
- Banvalet
- 350 Seiten
- Buchtaufe: 28. September, 20 UhrSphères, Zürich