
Der tote General ruht in Frieden – Warum die Schweiz Alain Berset statt Henri Guisan feiert

Es war eine Beerdigung, wie sie die Schweiz nie mehr sah. Als General Henri Guisan am 12. April 1960 zu Grabe getragen wurde, stand das Land still. 300’000 Schweizerinnen und Schweizer reisten nach Lausanne, das noch junge Fernsehen übertrug die Trauerfeierlichkeiten live. Militärflugzeuge donnerten über den Trauerzug, der Gesamtbundesrat lief hinter dem Sarg, Kantonsregierungen, Diplomaten. Tausende Soldaten grüssten den General ein letztes Mal. Und dem Sarg folgte, nach alter Feldherrentradition, das Pferd mit dem leeren Sattel.
Guisan war eine Figur, die über Jahrzehnte aus der Schweizer Erinnerungskultur nicht wegzudenken war: Übervater der Aktivdienstgeneration; Symbolfigur für Wehrhaftigkeit, Widerstand und Réduit. Doch jetzt ist er seit 60 Jahren tot und der Todestag fand fast keine Beachtung mehr: Einzig «24 Heures», die Zeitung aus Guisans Heimatkanton, erinnerte an die Beerdigung und SRF wiederholte spätabends eine ältere Doku. Was sagt dies über die Schweiz von heute?
Die «Sonderfall-Ideologie» hat ausgedient
Jakob Tanner ist nicht besonders über die verblassende Erinnerungskultur erstaunt. Den grossen Wendepunkt im Guisan-Bild macht der emeritierte Zürcher Geschichtsprofessor in der Finanzmarktkrise 2008 aus, als die Banken gerettet werden mussten. «Die Schweiz realisierte damals, wie stark sie international vernetzt ist. Mit einer Sonderfall-Ideologie kann sie keine Lösungen für die grossen Probleme finden», sagt Tanner mit Blick auf eine globalisierte Welt.
Den Beginn dieser Entwicklung – und eines sich damit verändernden Guisan-Bildes – verortet er bereits in den späten 1980er-Jahren: «Die Schweiz erlebte damals eine erstaunliche Phase der Öffnung.» Das Eherecht wurde reformiert, es war eine Annäherung an die Europäische Gemeinschaft spürbar und 1989 erzielte die Armeeabschaffungsinitiative einen Achtungserfolg. Im Gefolge dieser Veränderung bekam auch das bis anhin gepflegte Guisan-Bild Risse: Die Haltung des Generals zu Juden und Flüchtlingen etwa wurde kritisch hinterfragt.
Das EWR-Nein befeuerte die alte Nationalmythologie nochmals
Allerdings führte das Ende des Kalten Krieges dann doch – noch – nicht zu einem Aufbruch der Schweiz. «Mit dem EWR-Nein von 1992 blühte die Zweit-Weltkriegs-Schweiz nochmals auf. Die SVP hat die Nationalmythologie, die zuvor auch von der offiziellen Schweiz gefördert worden war, übernommen», sagt Tanner, der die intensiven Diskussionen um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg als Mitglied der Bergierkommission erlebt hat.
Das frühere Guisan-Bild fand jedoch Ausläufer bis ins 21. Jahrhundert: Letztmals flammte eine Debatte zum 50. Todestag 2010 auf, als Markus Somm, damals stellvertretender Chefredaktor der rechtskonservativen «Weltwoche», mit einer Guisan-Biographie publizistischen Zündstoff lieferte. Nochmals wurden die Figur Guisan kontrovers debattiert – und seine Widersprüchlichkeiten gezeigt. Der Verteidiger der Schweizer Demokratie hatte in den 1930er-Jahren Sympathien für Mussolini. Der General der neutralen Schweiz hatte geheime Absprachen mit dem französischen Generalstab getroffen.
Für Jakob Tanner war 2010 «ein spätes Rückzugsgefecht der Réduit-Schweiz». Doch heute sei klar: «Die nationalfixierten Kämpfe der 1990er-Jahre sind Vergangenheit.» Die Welt ist vernetzter geworden. Wie wichtig die europäische und globale Zusammenarbeit sei, zeige sich heute gerade auch bei der Klimadiskussion und beim Corona-Virus, so Tanner.
Heute: lieber Berset als Guisan
Dass der Todestag des Generals übergangen wurde, heisst aber nicht, dass der Mythos Guisan ganz aus der Schweizer Erinnerungskultur verschwunden ist. Dies zeigte sich just an seinem Todestag Anfang April. Guisans Figur diente als Blaupause, um das forsche Handeln von Gesundheitsminister und «Krisenmanager» Alain Berset zu beschreiben. Die «Weltwoche» zeigte Berset in historischer Militäruniform und titelte: «General der Viren. Bundesrat Berset im Corona-Réduit». Die «NZZ» schrieb: «Berset spielt die Rolle seines Lebens. Manche sagen, ihn umwehe ein Hauch von General Guisan.» Die Schweiz sei zwar nicht im Krieg, «aber wo der General nach 1939 den Widerstandsgeist von Volk und Armee beseelte, ist es heute Berset, der den Durchhaltewillen beschwört».
Dass Berset nun «Virengeneral» genannt und Guisan-ähnlich überhöht wird, versteht Historiker Tanner nicht. «Wer einen solchen Vergleich trifft, hat das politische System der Schweiz nicht verstanden.» Der Historiker weist auf die unterschiedlichen Rollen eines heutigen Regierungsmitglieds und des damaligen Generals hin und nimmt die Kriegsrhetorik, die gewisse Politiker in der Corona-Krise pflegen, mit einem Kopfschütteln zur Kenntnis. Wer von Krieg spricht, macht sich wichtig, lässt aber das nötige Problembewusstsein vermissen. Während in militärischen Konflikten Menschen vorsätzlich getötet werden, geht es in der Pandemie doch darum, sie zu schützen. Und das sei eine Herausforderung, «die sich eben gerade nicht gegeneinander, sondern einzig durch grenzüberschreitende Kooperation bewältigen lässt».