Die Floskel

«Wie geht es dir?», fragte der Mann die Frau im Zugsabteil hinter mir. Offensichtlich kannten sich die beiden Personen und trafen sich zufällig. Es gibt Tage, an denen merke ich unterwegs, dass ich meine Kopfhörer zu Hause liegen gelassen habe. Doch der Ärger ist meist nur von kurzer Dauer. Denn so bietet sich mir die Gelegenheit, den Gesprächen anderer Fahrgäste zu lauschen, welche oft einen grösseren Unterhaltungswert haben als das gesamte Angebot des Streaming-Dienstes Spotify.

«Ja du, man schlägt sich durch», antwortete die Frau auf die Frage zu ihrem Befinden. Sie habe Rückenschmerzen («du, ich sag dir, wenn das jetzt schon beginnt …») und Nicola, vermutlich ihr Sohn, sei wieder schnuppern gewesen. Der Betrieb verlange von ihm, dass er einen «Multicheck» absolviert, wenn er sich für die Lehrstelle bewerben wolle. Und dieser digitale Eignungstest koste «hundert Hämmer, imfall …». So richtig interessiert schien der Herr an den Erzählungen nicht zu sein. Seine Reaktionen beschränkten sich auf «ah, okay», «schon extrem …» und «mhmm …». Irgendwie verständlich, denn es war tatsächlich ein Redeschwall, der da auf ihn zukam. Doch Mitleid hatte ich nicht mit ihm. Das Ganze hatte er sich mit seiner Frage, wie es ihr gehe, selbst eingebrockt. «Wie geht es dir?» ist die in unserer Kultur vermutlich am meisten gestellte, aber auch am meisten als Floskel missbrauchte Frage. Und das ist schade. So ist sie doch wortwörtlich betrachtet ein Ausdruck des Interesses am Befinden einer anderen Person und sie existiert nicht nur als Kommando für die Antwort «Danke, gut, und selbst?». Ich persönlich versuche immer häufiger, auf die Frage zu verzichten, wenn mich die Antwort einer Person gar nicht wirklich interessiert. Sie hat sich aber so sehr eingebürgert, dass es mir noch schwerfällt. Doch würde die Frage häufiger im wortwörtlichen Sinne gestellt, würde es uns vielleicht auch leichterfallen, Mitmenschen zu vertrauen und uns gegenüber ihnen zu öffnen.