Diese 103-jährige Frau erlebt bereits die zweite Pandemie

Als Anna Burger-Haas zur Welt kam, stand die Welt kurz vor einer Pandemie: der Spanischen Grippe. Das war im April 1918. Diese Woche feierte Anna Burger ihren 103. Geburtstag. «Wer hätte das gedacht», sagt sie und lächelt.

Die Welt im Frühjahr 1918; so nah und doch so ungeheuer weit weg. Da lauerte die Pandemie, da tobte immer noch der Erste Weltkrieg, es fehlte an Lebensmitteln. Und bei Familie Haas im solothurnischen Derendingen klopfte das halbe Dorf an die Tür, um zu telefonieren; Vater Haas hatte dank seines Schlossereibetriebes einen von zwei Telefonanschlüssen im Ort.

Heute lebt Anna Burger im Alterszentrum Mühlefeld in Erlinsbach SO. Davor hat sie 69 Jahre lang an der Sämisweidstrasse in Unterentfelden gewohnt, bis Januar 2013. 2010 war ihr Mann Hans gestorben, ihn hatte sie noch während einiger Monate gepflegt.

Nach Unterentfelden wegen des Landenhofs

Nach Unterentfelden kam Anna Haas 1942. Am Landenhof, der Schule für Schwerhörige, hatte die Handarbeitslehrerin eine Stelle gefunden. Und es dauerte nicht lange, da verliebte sie sich in einen waschechten Unterentfelder: Hans Burger, Werkmeister bei Kern in Aarau und Sohn von Fritz Burger, der seinem Hof an der Hauptstrasse eine Sattler- und Tapezierwerkstatt angefügt hatte. Anna und Hans heirateten im Januar 1944 auf dem Staufberg, kurz bevor Hans wieder in den Aktivdienst einrücken musste.

Frisch verheiratet war Anna Burger nun allein im kleinen Chalet, das die beiden auf dem Land von Vater Fritz hatten bauen dürfen. «Es war keine einfache Zeit, das hat sie oft erzählt», sagt Hansjörg Burger, der ältere von zwei Söhnen. Das Haus war spärlich ausgestattet und die Heizung so schwach, dass die Leitungen im Winter einfroren. Ausserdem waren die Lebensmittel knapp, alles war rationiert. Nahrungsmittel gab es nur gegen Märkli und als junges, noch kinderloses Paar bekamen die beiden davon nicht viel. «Sie hat oft erzählt, dass sie hungrig vor dem Schrank gestanden habe und darauf verzichtete, eine Scheibe Brot herauszunehmen», erinnert sich Sohn Hansjörg. «Damit der Vater sicher genug hatte, wenn er hungrig von der Arbeit heimkam.» Um die Not abzufedern, legte die Mutter einen riesigen Garten an; alleine die Erdbeeren hätten acht Beete ausgemacht, sagt Hansjörg Burger. Und später, als er und Bruder Andreas schon etwas grösser waren, hätten sie jeweils bei Onkel Willy Futterrüben geputzt, um einen feinen Zvieri zu bekommen.

Als die beiden Buben zur Schule gingen, arbeitete Anna Burger stundenweise in der Schuhbändelifabrik Dätwyler. Später kehrte sie in den Lehrerberuf zurück, unterrichtete Handarbeit in Walterswil, Schönenwerd, Erlinsbach SO und Gretzenbach. Mit grosser Freude, bis zu ihrer Pensionierung. Ihre Freizeit genossen Anna und Hans Burger in ihrem Wohnwagen auf dem Campingplatz in Saanen. Sie liebten die Berge und den Schnee.

«Ich mag Schnee – ämel, solange ich drinnen bin»

Das Nähen war eine grosse Leidenschaft, noch heute trägt Anna Burger Selbstgeschneidertes. Und ihre Fingerfertigkeit ist noch immer beachtlich. Bis nach ihrem 101. Geburtstag hat sie jeden Tag einen Spaziergang gemacht. Immer die gleiche Runde, um jederzeit zu wissen, wo lang es nach Hause geht. «Altersheim-Express» wurde sie genannt. Auch liest sie gern, vor allem die Bibel. Das dritte Exemplar habe sie ihr inzwischen gebracht, sagt Schwiegertochter Elisabeth Burger, «so zerlesen waren die vorherigen Exemplare».

Anna Burger wirkt nicht so alt, wie sie ist. Sie sitzt aufrecht in ihrem Rollstuhl, blickt aufmerksam nach draussen, wundert sich über die Schneeflocken, die da wirbeln. «Ich mag Schnee», sagt sie, lächelt und fügt an: «Ämel, solange ich drinnen bin.» Und dann fragt sie, welchen Monat wir haben.

Der Kopf wolle nicht mehr so recht, das sei halt so. Sie nimmt das mit grosser Gelassenheit. «Es geht alles zum Kopf raus», sagt sie. «Aber ich vermisse nichts.» Immer wieder sagt sie, wie gut sie es hier im Alterszentrum habe, wie gut man ihr hier schaue. «Sie ist ein unglaublich zufriedener Mensch, nie fällt ein böses Wort», sagt Elisabeth Burger. «Das ist aussergewöhnlich.»

So aussergewöhnlich, wie 103 Jahre alt zu werden. Fünf Enkel und zehn Urenkel hat Anna Burger inzwischen. Und auch für Hansjörg Burger, bald 74 Jahre alt, ist es aussergewöhnlich, noch eine Mutter zu haben. «Wir sind immer noch in der Mitte zwischen zwei Generationen», sagt er und lacht. «Wenn ich das jemandem erzähle, fühle ich mich gleich jünger.»

Ein exklusiver Klub

100-Jährige Mit 103 Jahren und Jahrgang 1918 ist Anna Burger-Haas die älteste Bewohnerin des Alterszentrums Mühlefeld im solothurnischen Erlinsbach. Sie zählt zu den 14 ältesten Solothurnerinnen überhaupt. Die Älteste hat Jahrgang 1916. Im Aargau lebten Ende letzten Jahres 70 Personen im Alter von 100 oder mehr Jahren: 58 Frauen und 12 Männer. 2020 wurde die älteste im Kanton Aargau lebende Person 107 Jahre alt. (ksc)