Diese elektronische Fussfessel aus dem Jura will Verbrechen vorhersagen können

433 Fussfessel-Träger in der Schweiz

In der Schweiz trugen letztes Jahr 433 Personen eine elektronische Fussfessel. Das ergab eine Umfrage der «Sonntags-Zeitung» bei den Kantonen. Die Voraussetzungen, mit der Fussfessel um eine Haftstrafe herumzukommen, sind eng gefasst. Zum Beispiel darf die Gefängnisstrafe nicht länger als ein Jahr sein, der Verurteilte muss eine feste Arbeit haben und darf keine Rückfall- oder Fluchtgefahr aufweisen. Ausserdem werden die Fussfesseln zum Ende von langen Haftzeiten verwendet, um die Häftlinge zu reintegrieren. Straftäter mit einer Fussfessel werden in der Schweiz aus finanziellen Gründen in der Regel nur zu Bürozeiten live-überwacht.

Auf der Karte bewegt sich das Porträtbild eines Mannes – mitte Zwanzig, braune Haare – langsam vorwärts. Sein üblicher Weg, von der Arbeit nach Hause, ist mit grünen Pfeilen vorgezeichnet. Doch diesmal weicht der Mann davon ab. Orange blinkt es auf: «Alarm, Verhaltensänderung.» Darunter: «Mittleres Risiko, empfohlene Aktion: Täter kontaktieren.»

Was klingt wie die Überwachungsdiktatur aus einem Science-Fiction-Thriller, ist ein Werbefilm der Firma Geosatis aus Le Noirmont im Kanton Jura. Das Unternehmen baut elektronische Fussfesseln für Straftäter. Eigentlich ist die Firma noch ein Start-up. 2011 wurde sie als Spin-Off der ETH Lausanne gegründet. Heute sind Zehntausende der Fussfesseln auf vier Kontinenten im Einsatz.

Die Swisscom hat über ihr Start-up-Programm einen Millionenbetrag investiert. Laurent Dassault – ein Spross der milliardenschweren Dassault-Familie, deren Firmen zum Beispiel den Kampfjet Rafale produzieren – ist ebenfalls unter den Investoren. Ein wenig voreilig bezeichnet sich Geosatis auf seiner Website als «global leader» bei der elektronischen Überwachung. «Nicht im Bezug auf die Anzahl Geräte», präzisiert der operative Geschäftsleiter Mehdi Megdiche. «Aber wir sind weltweit Technologieführer.»

Die Jurassier haben ein ehrgeiziges Ziel: Sie wollen Straftaten vorhersehen. Oder mindestens erkennen, wann das Risiko steigt, dass jemand mit einer Fussfessel erneut straffällig wird. In den ausgelieferten Geräten hat es bereits Sensoren, die Bewegung und Beschleunigung messen. Ähnlich wie eine Smartwatch. Technologie-Chef Rashed Moussa sagt: «Im Moment werden die Daten aus gesetzlichen Gründen nicht gesammelt. Aber wir könnten damit erkennen, ob jemand liegt, läuft, rennt, oder gerade eine spezifische Sportart ausführt. Sogar die Schlafqualität des Fussfessel-Trägers ist messbar.»
 
Wer seinen Schlafrythmus ändert, ist verdächtig

Diese Daten will Geosatis nutzen. «Wenn ein Straftäter zum Beispiel plötzlich seinen Schlafrhythmus ändert, oder in der Nacht immer wieder nach draussen geht, ist das ein Indiz, dass mit ihm etwas sein könnte und sein Bewährungshelfer mit ihm reden sollte», so Moussa. Bei Personen, die sich stabil verhielten, könne sich der Bewährungshelfer dafür Arbeit sparen.

Bisher wollte noch kein Land die Daten-Analyse einführen. «Seit einigen Jahren ist es in der Diskussion, wir konnten es aber noch nirgends implementieren», sagt Moussa. «Es braucht noch ein bisschen Zeit. Aber es liegt in der Luft.» In der Technik-Abteilung schwirren derweil bereits neue Ideen herum. Moussa: «Wir würden gerne weitere biometrische Daten erfassen. Zum Beispiel mit einem Herzschlagsensor. Oder indem wir Drogentests einbinden.»

Aus Sicht der Geosatis-Leute dienen die Weiterentwicklungen der Integration von Straftätern in die Gesellschaft. Sie sehen ihr Geschäft, das Bauen von elektronischen Fussfesseln, als «Einsatz für eine humane Gesellschaft». Der operative Geschäftsleiter Megdiche begründet das so: «Gefängnisse funktionieren nicht. Für die Mehrheit der Insassen sind sie ein Teufelskreis. Das soziale Umfeld wird zerstört, der Job geht verloren. Wer rauskommt, steht vor dem nichts und begeht eher wieder Straftaten.»

Dass Fussfesseln einen weniger schweren Eingriff in das Leben eines Menschen sind als das Gefängnis, sagt auch Viktor Györffy, Anwalt und Präsident des Vereins grundrechte.ch, der sich gegen staatliche Überwachung einsetzt. «Wenn nun aber weitere Daten erhoben würden, etwa, wie gut ein Fussfesselträger schläft, geht das viel weiter als eine blosse GPS-Überwachung. Aus unserer Sicht ist das unverhältnismässig.»

Geosatis wächst in rasend schnellem Tempo

Der Einsatz von elektronischen Fussfesseln nimmt weltweit zu. Geosatis wächst laut Megdiche exponentiell. Dieses Jahr stellten die Jurassier doppelt so viele Geräte her wie 2018, nächstes Jahr sollen es fünfmal so viele werden wie jetzt. Über die Abnehmer redet Megdiche nicht gerne. Er sagt lediglich, dass die Geräte auf vier Kontinenten im Einsatz sind: «Im Moment treibt Südamerika unser Wachstum.» Öffentlich bekannt ist, dass Geosatis grosse Bestellungen aus Südafrika und Litauen erhalten hat.

Das Unternehmen verkauft seine Fussfesseln nicht, sondern vermietet sie. Das kostet ein- bis zweistellige Frankenbeträge pro Tag und Fessel, je nach Umfang der Dienstleistung, Bestellmenge und Land. Zum Umsatz äussert sich Megdiche nicht. Profitabel ist die Firma noch nicht: «Wegen unseres Geschäftsmodells verteilen sich die Erträge über einen längeren Zeitraum, die Kosten für Entwicklung und Lieferung werden aber bereits jetzt fällig», so Megdiche.

Die Jurassier bauen an der perfekten Überwachungsmaschine. Gerät sie in die falschen Hände, kann der Schaden riesig sein. Megdiche sagt: «Wir liefern unsere Geräte ausschliesslich für den Strafvollzug und ausschliesslich an Regierungen.» Geosatis habe eine schwarze Liste von Ländern, die bekanntermassen Menschenrechte verletzen. An diese werde nicht verkauft. In den USA, die für ihren weitverbreiteten Einsatz von Fussfesseln immer wieder in der Kritik stehen, hat Geosatis hingegen kürzlich ein Büro eröffnet. Der US-Markt ist der grösste der Welt.

Megdiche sagt, die Firma sei sich ihrer grossen Verantwortung bewusst: «Wenn uns etwas verdächtig vorkommt, liefern wir nicht.» In solchen Fällen schliessen sie sich mit dem Bund kurz, der auch schon Exporte verhindert habe. Megdiche erzählt von zwei Fällen, deren Ablehnung weniger Nachdenken erfordert habe: «Eine Firma erkundigte sich, ob wir Überwachungsgeräte zum Tracking von Wanderarbeitern liefern würden. Und jemand fragte nach elektronischen Fussfesseln für Frauen.»