«Dieser Reflex, die Swissair zu reaktivieren, ist völlig falsch»: Der Chef des Flughafens Zürich über die Folgen des Groundings

Wie erlebten Sie die Zeit des Groundings?

Stephan Widrig: Es war eine sehr intensive Zeit. Ich war 29 Jahre alt und durfte in der zweiten Linie hinter dem damaligen CEO Josef Felder im engeren Krisenteam mitwirken. So war ich unter anderem für die Sicherung wichtiger Infrastrukturen wie der Gepäcksortieranlage oder des Fracht-Hochregallagers verantwortlich, die für den Betrieb zentral waren, aber im Eigentum der Swissair Gruppe lagen. Wir mussten sicher sein, dass der Flughafenbetrieb weiter funktionieren würde, denn alle anderen Airlines flogen ja weiter.

Die Lage war angespannt. Aber konnte man sich ein Grounding wirklich vorstellen?

Die Schieflage der Swissair war uns bekannt. Die Einstellung des Flugbetriebs in dieser Form hat wohl niemand erwartet, aber dass die Gruppe in ihrer bestehenden Form nicht überlebensfähig ist, hat sich abgezeichnet. Einige Wochen davor haben wir uns auch mit einem möglichen Kollaps beschäftigt, und haben dann auch ein paar Tage vor dem Grounding bereits voll mobilisiert. Unser Krisenmanagement hat sich jeden Morgen und Abend getroffen, denn die Swissair war übermächtig am Flughafen Zürich – sie machte die Mehrheit unserer Einnahmen aus. Zu ihr gehörten ja auch zahlreiche weitere kritische Betriebe wie die Wartungsfirma SR Technics, der Catering-Konzern Gategourmet oder die Abfertigungsfirma Swissport, die alle bei uns eingemietet waren.

Und wie erinnern Sie sich an den 2. Oktober, den Tag des Groundings?

Da war natürlich alles sehr hektisch. Einerseits ging es um komplexe juristische Fragen, wir sprachen mit Konkursanwälten. Und andererseits ging es um praktische Lösungen an der Front, die Betreuung und Unterbringung der gestrandeten Swissair-Passagiere. Flughafen-Direktor Josef Felder nahm selbst sogar zwei Passagiere bei sich auf. Und natürlich bleiben die harten, menschlichen Schicksale in Erinnerung. Die Sorge in den Gesichtern der Swissair-Angestellten.

Verspürten Sie damals Wut gegenüber den Swissair-Verantwortlichen?

Ach, für solche Emotionen hatten wir schlicht keine Zeit. Wir mussten den Betrieb am Laufen halten. Und rückblickend war es rein persönlich für mich eine äusserst spannende, lehrreiche Zeit. Sie half auch, am Flughafen nachhaltige gesunde Strukturen zu schaffen.

Inwiefern helfen diese Erfahrungen in der aktuellen Pandemie?

Wenn man eine solche tiefgreifende Krise miterlebt hat, prägt das natürlich das Denken und Handeln von uns allen am Flughafen auch heute noch mit. So haben wir seither immer auf eine hohe Eigenfinanzierung und eine gute Diversifikation geachtet. Dies war wohl auch matchentscheidend, dass wir heute die Corona-Krise aus eigener Kraft bewältigen können. Wir haben also durchaus gute Lehren daraus gezogen und auch in den Wachstumsjahren der letzten Zeit nicht vergessen.

Heute ist die Swiss Ihr wichtigster Partner. Wie unterscheidet sich das Verhältnis im Vergleich zur Swissair?

Ich würde sagen, es ist ähnlich gut, eher besser. Die Machtverhältnisse haben sich zum Glück verändert. Die Swissair hatte damals praktisch alles dominiert. Das Klumpenrisiko war enorm, wie die Schweiz auf die harte Tour lernen musste. Auch wir waren entsprechend deutlich abhängiger von der Swissair als heute von der Swiss, vor allem wegen der kritischen Infrastruktur, die damals im Besitz der Swissair waren. Die Gesamtsteuerung am Boden funktioniert heute besser und wird durch den Flughafen geführt.

Trotzdem: Die Swiss ist nicht mehr schweizerisch, die ganz grossen Entscheide werden in Frankfurt getätigt.

Das sehe ich nüchtern. Für mich ist die gute Anbindung der Schweizer Volkswirtschaft ans Ausland zentral. Und diese ist heute hervorragend – viel besser als in Belgien, Italien oder Skandinavien, die ihre Drehkreuze allesamt verloren haben. Die Swiss erbringt ihre Wertschöpfung hauptsächlich in der Schweiz, und wir arbeiten mit ihr sehr eng zusammen, das funktioniert. Eine gute Wertschöpfung ist für mich wichtiger als der Stolz einer unabhängigen Airline. Deshalb bin ich sehr glücklich, wie sich die Swiss im Lufthansa-Konzern entwickelt hat.

Dennoch hängt die Anbindung ans Ausland über den Luftweg von einem deutschen Konzern ab, das ist ein Risiko. Während der Pandemie wurden schliesslich gar Masken-Lieferungen von Deutschland in die Schweiz gestoppt.

Die Autarkie der Schweiz ist sowieso nicht gegeben, da müssen wir realistisch sein. Die internationale Vernetzung ist praktisch überall sichtbar. Viele Schweizer Konzerne, die hier kotiert sind, haben eine Mehrheit an ausländischen Besitzern. Für mich ist zentral, dass die Swiss eine Schweizer DNA hat, ihren Sitz hier hat und das Personal hier Steuern bezahlt.

Während der Corona-Krise liebäugelten manche Politiker mit der Idee, dass der Bund die Swiss der Lufthansa abkaufen sollte. Würden Sie sich nicht über ein Comeback der Swissair freuen?

Dieser Reflex, die Swissair zu reaktivieren, ist völlig falsch. Die Swiss hatte bis zur Pandemie Erfolg, weil sie Teil der Lufthansa Gruppe ist, und sie wird auch in Zukunft wieder Erfolg haben. Aber nicht als eigenständige Airline. Insofern war das Ziel von Swissair-Chef Philippe Bruggisser nicht falsch, die Swissair in einen grösseren Verbund einbetten zu wollen, weil der Markt sich konsolidierte. Leider war sein «Hunter»-Plan aber viel zu riskant. Vergessen geht zuweilen auch, dass er die Tochterfirmen der Swissair erfolgreich aufgebaut hat, und diese heute noch globale Marktführer sind, die alle in der Schweiz ihre Zentrale haben, so unter anderem Gategroup, Dufry, Swissport und SR Technics. Auch das war sehr visionär.

Wie wäre es dann zumindest mit einem Swissair-Museum in ihrem neuen Immobilienkomplex, dem «Circle»?

Wir wollen hier lieber die Geschichte erzählen von Marken, die die Zukunft gestalten, und nicht in der Vergangenheit schwelgen.