Dr. Rafeiner: «Bitte lassen Sie sich nicht aus reiner Neugierde auf Covid-19 testen!»

Herr Rafeiner, wie ist die Lage im Spital Zofingen aktuell?

Philippe Rafeiner: Insgesamt läuft das Tagesgeschäft wieder ziemlich normal. Seit dem 20. Juni gibt es keine sogenannte Vortriage mehr, das heisst, es wird nicht mehr jeder Patient und jeder Besucher vor dem Eingang auf mögliche Symptome untersucht und befragt. Man kann sagen, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat: Wir appellieren an die Selbstverantwortung der Besucher und Patienten und propagieren danebst die Aktivierung der Corona-App. Wer Symptome verspürt, soll das Spital als Besucher meiden. Insofern haben wir nun eine eingeschränkte Kontrolle darüber, wer das Spital betritt. Wer sich am Empfang meldet, wird nach Symptomen gefragt.

Trauen sich die «normalen» Patienten mittlerweile wieder, zur Kontrolle und für Untersuche ins Spital zu kommen?

Ja, das hat sich weitgehend normalisiert. Es war ja wirklich eigenartig: Vor 6 bis 8 Wochen haben wir viel weniger Kranke als üblich gesehen. Wochenlang! Wie wenn es keine Krankheiten mehr gäbe! Nun sehen wir aber viele Leute, die wirklich ernsthaft krank sind. Es scheint zu einem nicht unerheblichen Teil Kopfsache zu sein, ob man krank wird, bzw. sich krank fühlt oder nicht. Wenn man nicht krank werden darf, dann wird man es offenbar weniger, wie etwa vor einer Prüfung. Für mich als Arzt ist das eine faszinierende Nebenerscheinung der Corona-Krise.

Letzten Freitag hat der Bundesrat grosse Lockerungen der Corona-Massnahmen bekanntgegeben. Bereits tags darauf meldeten Mitglieder der Taskforce des Bundes Bedenken an, die Lockerung käme zu früh. Was ist Ihre Meinung?

Sehen Sie, es gibt so dermassen viele Meinungen, so viele Experten und Prognosen – und die können sich durchaus auch widersprechen, das wissen wir mittlerweile. Dennoch, oder gerade deswegen, fände ich es sehr wünschenswert, wenn Bundesrat und Taskforce wenigstens nach Aussen gesehen eine einheitliche Meinung vertreten würden. Ich finde es befremdend, wenn Taskforce-Mitglieder öffentlich den Kurs infrage stellen, den der Bundesrat einschlägt. Das verunsichert die Bevölkerung. Ich will damit nicht sagen, Bundesrat und Taskforce hätten ihren Job nicht ordentlich gemacht. Ein Job, der übrigens noch nicht vorbei ist, wie man in andern Ländern sehen kann, etwa Israel oder Südkorea, die wieder steigende Fallzahlen melden. Wir müssen dringend weiterhin Respekt vor diesem Virus haben.

Ein grosses Problem in der Corona-Krise ist die schiere Menge an Informationen, die oft widersprüchlich sind. Auf welche Quellen verlassen Sie sich als Arzt?

Diese Pandemie ist die erste, die wir in dieser Form «live» miterleben. Geändert hat sich in den letzten drei Monaten nicht viel: wenig lässt sich mit Sicherheit voraussagen. Als Arzt befasse ich mich natürlich auch mit medizinischen Studien und Quellen, das Problem ist nur: Bis eine Studie erscheint, ist sie zwei, drei Monate alt. Gewisse Sachverhalte lassen sich damit verstehen und erklären, allerdings nur rückblickend. Natürlich lese ich wie Sie auch Zeitung. Interessant fand ich eine Umfrage, die der Tagesanzeiger letzte Woche publiziert hat und in der eine grosse Zahl an Experten und Spezialisten befragt wurden. Die Umfrage zeigte mir wieder einmal eindrücklich, wie wenig wir eigentlich wissen und dass in kaum einer Frage ein wirklicher Konsens herrscht.

Immer wieder wird eine Maskenpflicht im öV diskutiert. Wie stehen Sie grundsätzlich dazu?

Eine schwierige Frage. Im medizinischen Kontext machen Masken sicherlich sehr viel Sinn, unter anderem auch deshalb, weil das Personal weiss, wie man richtig damit umgeht. Im öffentlichen Raum können Masken da, wo nicht genügend Abstand gehalten werden kann, sicherlich sinnvoll sein. Ich würde es mal so formulieren: wer eine Maske trägt, schützt die Mitmenschen in leicht höherem Masse als sich selbst. Immerhin!

Die Schweiz gehört offenbar nicht zu den Ländern, in denen man freiwillig Masken trägt? Weshalb?

In der Schweiz haben wir wochenlang eine kontroverse Diskussion über Sinn und Unsinn von Masken geführt. Das BAG selber hat anfangs, als wir in der Schweiz noch unterversorgt waren damit, den Nutzen von Masken für alle als nicht sehr hoch eingestuft. Jetzt hätten wir genug Masken, aber die Diskussion hat wohl ihre Spuren hinterlassen. Es wäre aber auch inkonsequent, ein Maskenobligatorium im öV einzuführen, wenn gleichzeitig 300 Menschen in einem Club feiern und tanzen dürfen – ohne Schutz.

Die Zahl der Neuinfektionen steigt auch in der Schweiz wieder, nachdem sie eine Weile im einstelligen Bereich waren. Heute Donnerstag waren es 52. Ab welcher Zahl müssen wir uns Sorgen machen?

Es ist nicht die absolute Zahl der Neuinfektionen, sondern der R-Wert, der entscheidend ist, und der liegt momentan ganz leicht über 1, was bedeutet, dass jeder Infizierte im Schnitt leicht mehr als eine andere Person ansteckt. Beruhigend ist ein R-Wert, der kleiner ist als 1, dann sinkt die Kurve.

Ich verstehe generell nicht, weshalb das BAG nur die Zahl der Neuinfektionen meldet, ohne diese jeweils in Relation zur Anzahl durchgeführter Tests zu stellen, denn eines ist sicher: je mehr Tests ich durchführe, desto mehr Infizierte werde ich finden. Am Mittwoch hat Alain Berset ja gesagt, man solle sich testen lassen, der Bund würde die Kosten der Tests übernehmen. Grundsätzlich ist das ja begrüssenswert. Die Kommunikation der Indikationsstellung habe ich allerdings vermisst. Man hätte betonen sollen, dass nach wie vor primär jene Personen sich testen lassen sollen, die tatsächliche Symptome verspüren. Wir werden nun in Zofingen überrannt von Testwilligen, wir sind schon beinahe am Anschlag, denn wir haben nicht unbegrenzte Kapazitäten dafür frei. Ich möchte die Bevölkerung deshalb aufrufen, sich nicht aus reiner Neugierde testen zu lassen, das bringt nichts, sondern bindet Kapazitäten, die wir anderswo dringender benötigen. Wer sich testen lassen will aus gutem Grund, kann das zwischen 10:00 Uhr und 17:00 Uhr im Spital Zofingen tun. Man sollte allerdings mit längeren Wartezeiten rechnen.

Eine Frage zum Schluss: Laden Sie persönlich die Covid-App runter, die seit Donnerstag erhältlich ist?

Ja, das werde ich tun, es scheint mir sinnvoll. Bezüglich des Datenschutzes mache ich mir weniger Gedanken. Die Illusion, wir seien nicht «tracebar», die habe ich schon seit längerem aufgegeben.