
Ehemaliger Chefarzt Javier Fandino hat eine Klage am Hals
Warum sich das Kantonsspital Aarau (KSA) und Javier Fandino, Chefarzt der Klinik für Neurochirurgie, trennten, ist weiterhin unklar. Es ist die Rede von unterschiedlichen Auffassungen über die Art der Kommunikation. Verschiedene Neurochirurgen aus dem In- und Ausland konnten und können den Entscheid nicht nachvollziehen. Neben Entsetzen hat die sofortige Freistellung aber auch Erleichterung ausgelöst. Es gab schon früh Stimmen, die sagten, sein Abgang sei überfällig gewesen. Diese Stimmen werden lauter, je mehr Zeit verstreicht. Bei der AZ haben sich KSA-Mitarbeitende gemeldet, die alle anonym bleiben wollen. Zwar erwähnen praktisch alle von ihnen Javier Fandinos Charme und sagen, er sei visionär und fachlich kompetent – aber sie sprechen auch von einem Klima der Angst, einem Chefarzt, der sein Temperament nicht im Griff habe und seine Fähigkeiten gerne betone.
Wie wichtig Fandino sein Ruf als einer der besten Neurochirurgen im Land ist, zeigt ein Interview in der «Schweiz am Sonntag» aus dem Jahr 2015. Er erzählte, dass in Aarau mehr Personen am Hirn operiert werden als im Berner Inselspital oder im Zürcher Unispital. Die Reaktion aus Zürich folgte prompt. In einer Mitteilung stellte das Spital einen Zahlenvergleich auf, der zeigt: Das KSA führte 2013 etwas mehr als halb so viele Hirnoperationen durch wie die beiden Unispitäler.
Fandino spricht von einem Missverständnis: «Das Unispital Zürich und ich haben nicht über dieselben Zahlen gesprochen.» Er habe von der Gesamtzahl der Operationen gesprochen, die im Jahresbericht 2013 publiziert wurden. Er vergisst, dass ihn die Journalisten explizit gefragt haben, ob in Aarau mehr Personen am Hirn operiert werden, und er antwortete: «Ja, aber das wissen nur wenige Leute.»
Laut AZ-Informationen hatte das Zeitungsinterview intern ein Nachspiel. Er sei deshalb verwarnt worden und ein zweites Mal, weil er nicht rechtzeitig Stellung zu Haftpflichtfällen genommen habe. Das KSA äussert sich nicht dazu. Javier Fandino sagt: «Ich wurde zu keinem Zeitpunkt verwarnt.» Er sei während seiner über 17-jährigen Arbeitszeit am KSA zweimal ermahnt worden. «Diese Ermahnungen liegen fünf und drei Jahre zurück, sind arbeitsrechtlich nicht mehr relevant und waren auch für die Kündigung nicht relevant.»
Experimentelle Therapie ohne Aufklärung
Viel schwerer als die Aussagen im Interview wiegt die Kritik von Patientinnen. Vor kurzem hat eine Fachanwältin im Namen ihrer Mandantin – einer Patientin von Javier Fandino – eine Klage beim Bezirksgericht Aarau eingereicht. Der Neurochirurg soll 2013 bei der Frau mit Hirntumor eine experimentelle Operationstechnik angewandt haben, ohne sie darüber aufgeklärt und die erforderliche Einwilligung von ihr eingeholt zu haben. «Die Patientin wurde als Versuchskaninchen missbraucht. Das ist ethisch nicht vertretbar», heisst es in der Klage.
Auch der Gutachter, der pensionierte Neurochirurg Gerhard Hildebrandt, findet deutliche Worte: Der Einsatz der Methode sei nicht angebracht und unnötig gewesen. Als besonders kritikwürdig erachtet er unter anderem, dass Javier Fandino der Patientin einen Teil des Temporallappens herausgeschnitten und sie weder vor noch nach der Operation darüber informiert hat. Die Frau ist heute gesundheitlich in ihrer Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit massiv eingeschränkt. Für Javier Fandino gilt die Unschuldsvermutung. Er sagt, er könne sich aus Rücksicht auf das laufende Verfahren nicht zum Fall äussern, und hält wiederum fest, dass dieser in keinem Zusammenhang mit seiner Kündigung stehe.
Wo operiert wird, können Fehler passieren, und diese Fehler können für Ärztinnen und Ärzte juristische Konsequenzen haben. Es ist die Rede von gut einem Dutzend Haftpflichtfällen an der Klinik für Neurochirurgie des KSA. Das Spital will die Anzahl hängiger Fälle auf Anfrage nicht offenlegen, hält aber fest, dass es an der Klinik für Neurochirurgie «nicht besonders viele» Haftpflichtfälle gebe. Javier Fandino sagt, es liege kein neuer Haftpflichtfall gegen ihn vor. «Der letzte liegt vier Jahre zurück und ist – genauso wie der Fall von 2013 – Gegenstand eines laufenden Verfahrens.» Er betont, dass er seit 20 Jahren als Kader operiere und im Schnitt «etwa 400 Operationen pro Jahr» durchführe.
«Er hat völlig ungehalten reagiert»
KSA-Mitarbeitende sagen, solange die Dinge so liefen, wie es Javier Fandino passte, habe die Zusammenarbeit mit ihm Spass gemacht. Schwieriger wurde es bei Konflikten, da habe er schon laut werden können. Das hat auch die 72-jährige Heidi Grieder aus Menziken erlebt. Sie hat sich im September 2019 beim Rechtsdienst des KSA über Javier Fandino beschwert. Er habe sie nach der Operation an der Halswirbelsäule – die ein anderer Arzt durchgeführt hatte – nach Schmerzen gefragt. Sie beschrieb ihm Taubheitsgefühle im Arm. Er habe barsch geantwortet, dass er nach den Schmerzen gefragt habe. Als er seine Frage und sie ihre Antwort wiederholte, habe er «völlig ungehalten reagiert, wurde gar laut», schreibt Heidi Grieder in ihrer Beschwerde.
Schliesslich forderte der Chefarzt die Frau auf, die Halskrause auszuziehen und den Kopf in alle Richtungen zu bewegen. Er sagte ihr auch, sie brauche die Krause nicht mehr – obwohl ihr der Operateur und Physiotherapeut das Gegenteil gesagt haben. Heidi Grieder vermutet, dass deshalb das Implantat in ihrer Halswirbelsäule verrutschte und sie sich erneut einer viel komplizierteren Operation unterziehen musste.
Bis heute ist die 72-Jährige fassungslos, dass es vier Monate dauerte, bis sie von Javier Fandino eine Antwort auf ihre Beschwerde erhielt. Er liess sie wissen, diese sei «haltlos», das Tragen eines Halskragens nach Eingriffen an der Halswirbelsäule «nicht absolut indiziert». Zudem habe er während der Visite auch keine aussergewöhnlichen Massnahmen oder Bewegungen gefördert.
Siebenstelliger Jahreslohn für ehemaligen Chefarzt
Zumindest intern dürften sowohl das Verhalten des Chefarztes als auch einige Vorfälle schon länger bekannt gewesen sein. Verwaltungsratspräsident Peter Suter sagt auf Anfrage der AZ, der Verwaltungsrat habe dem Antrag der Geschäftsleitung für die Beendigung der Zusammenarbeit zu null stattgegeben. Trotzdem war Javier Fandino mehr als 17 Jahre an der Klinik für Neurochirurgie tätig. Er war ein Aushängeschild und gut für das Renommee. Das KSA betonte nach der Trennung denn auch, er habe «ausgezeichnete Arbeit beim Aufbau der Klinik geleistet» und «wesentlich dazu beigetragen, was sie heute ist».
Mitarbeitende sagen, die Geschäftsleitung habe Javier Fandino lange nicht als Problem gesehen. Die Klinik für Neurochirurgie sei als wichtig angesehen worden; als lukrative Cashcow. Die Wahrnehmung der Klinik sei KSA-intern übersteigert, was zu Javier Fandino passe. «Wenn man jemandem zum König macht, verhält er sich auch wie ein König», sagt ein Mitarbeiter.
Königlich war auch Javier Fandinos Lohn. Der Bruttojahreslohn dürfte im siebenstelligen Bereich liegen. In der Steuererklärung 2018 hat er ein steuerbares Einkommen von 800’000 Franken und ein steuerbares Vermögen von 1,3 Millionen Franken angegeben. Das KSA liess sich seine Arbeit und sein Können in den letzten Jahren etwas kosten.