
Eklat in der Hirnchirurgie: Warum musste Chefarzt Javier Fandino wirklich gehen? Eine Spurensuche
Sie können es nicht verstehen, sind schockiert und fürchten, dass das Neurozentrum des Kantonsspitals Aarau (KSA) an die Wand gefahren wird. Chefarzt Javier Fandino ersetzen? Sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, sagen mehrere Neurochirurgen, die ihn kennen und mit ihm zusammengearbeitet haben. Sie sprechen von einem grossen Fehler der Spitalleitung, bitten Verwaltungsratspräsident Peter Suter in mehreren Briefen, die sofortige Freistellung noch einmal zu überdenken, alles zu tun, um doch noch eine Lösung zu finden. Dies zum Wohle der Patientinnen und Patienten und um den über Jahre aufgebauten guten Ruf der Klinik für Neurochirurgie und des Hirntumorzentrums zu retten.
Es ist unüblich, dass die Trennung von einem Chefarzt so hohe Wellen schlägt. Gleichzeitig ist es nachvollziehbar, weil der plötzliche Bruch zwischen dem Spital und dem langjährigen Chefarzt viele Fragen aufwirft. Umso mehr, weil das KSA festhält, dass Javier Fandino beim Aufbau der Klinik ausgezeichnete Arbeit geleistet und wesentlich dazu beigetragen habe, sie dazu zu machen, was sie heute ist. Medizinisch hat er sich also nichts zu Schulden kommen lassen, trotzdem hat er vorletzte Woche die Kündigung und sofortige Freistellung erhalten. Das KSA hat sich entschieden, auf seine Erfahrung zu verzichten. Sich von Fandino zu trennen, war der Entschluss der achtköpfigen Geschäftsleitung. Der Verwaltungsrat hat ihn abgesegnet. Die Trennung erfolge nicht grundlos, so das offizielle Statement des Spitals. Ein Grund oder Gründe kann das Spital nicht nennen, weil Stillschweigen vereinbart wurde.
Chefarzt Ulrich Bürgi: «Summe verschiedener Konflikte»
Die Beendigung der Zusammenarbeit und sofortige Freistellung sei auch KSA-intern nicht näher begründet worden, sagt Ulrich Bürgi. Er ist Chefarzt Notfallmedizin am KSA und FDP-Grossrat. Javier Fandino sei fachlich sehr kompetent und hinterlasse zahlreiche zufriedene Patientinnen und Patienten, sagt Ulrich Bürgi. «Am Schluss war es wohl eine Summe verschiedener Konflikte zwischen ihm und seinen Vorgesetzten», meint er. Dass persönliche Differenzen und Kommunikationsschwierigkeiten zwischen dem CEO und ihm zur Trennung geführt haben, vermuten auch ehemalige Arbeitskollegen des Chefarztes. Ob Javier Fandino nur in der KSA-Geschäftsleitung oder auch bei anderen Chefärztinnen und Chefärzten aneckte, kann Bürgi nicht abschliessend beurteilen. Seine Wahrnehmung ist aber, dass es wenig offensichtliche Konflikte in der Ärzteschaft gab.
Öffentlich greift niemand Fandino an. Wegbegleiter und Fachkollegen anerkennen, schätzen und bewundern ihn für das, was er kann und ist. Sie erwähnen seinen Charme, seine Menschlichkeit, sein kolumbianisches Temperament. Nur hinter vorgehaltener Hand heisst es, sein Abgang sei nicht überraschend, sondern überfällig gewesen.
Javier Fandino: «Es ist meine Art der Kommunikation»
Javier Fandino äussert sich auf Anfrage der AZ nicht zu seiner sofortigen Freistellung. Aufschluss über seine Gefühlslage gibt ein Brief an die Schweizerische Gesellschaft für Neurochirurgie, deren designierter Präsident er ist. Der Entscheid der Geschäftsleitung habe ihn «völlig unerwartet getroffen», schreibt Fandino den Vorstandsmitgliedern und seinen Fachkolleginnen und Fachkollegen. Die letzten Tage seien emotional gewesen und gleichzeitig sei er sehr bewegt über die vielen unterstützenden Worte und den Zuspruch aus seinem beruflichen Umfeld. Es falle ihm schwer, sein tolles Team, aber auch seine Patientinnen und Patienten quasi über Nacht einfach zurückzulassen. Um Gerüchten und Spekulationen entgegenzuwirken, hält Fandino fest, dass die Kündigung keinen Zusammenhang mit seiner medizinischen Leistung und Integrität habe. «Es ist meine Art der Kommunikation, zu welcher die Verantwortlichen des KSA und ich unterschiedliche Auffassungen teilen», schreibt er. KSA-CEO Robert Rhiner stellt dies auf Anfrage der AZ nicht in Abrede.
Aufschluss darüber, wie Javier Fandino als Chef tickt, gibt ein Interview aus dem Jahr 2015 in der «Schweiz am Sonntag». Er betont darin, wie wichtig ihm Transparenz ist. Seine Lehrer hätten sich wie «Halbgötter in Weiss verhalten, die keine Kritik duldeten». Er wollte das ändern, hat Geräte für jene Untersuchungen, die früher erst nach der Operation gemacht wurden, im OP-Saal installiert. «Auf diese Weise erkennen Chirurg und Assistenten, ob alles richtig gelaufen ist, bevor der Kopf wieder zugemacht wird», sagte er. Sehe jemand eine Hirnblutung, mache er den Chirurgen darauf aufmerksam. «Dann gibt es keinen Platz für Egos. Alle bleiben im OP, bis das gelöst ist. Das Ziel ist eine völlig offene Kommunikation.»
Eine völlig offene Kommunikation wollte Fandino – auch im Umgang mit Fehlern. Recherchen der AZ zeigen, dass es in der Vergangenheit genau in diesem Bereich zu Konflikten zwischen dem KSA und dem Chefarzt kam. Es geht um mutmassliche ärztliche Fehler eines ehemaligen Arbeitskollegen von Javier Fandino. Bei einer Hirnoperation vor mehreren Jahren am KSA kam es zu Komplikationen. Der Patient wurde von einem Tag auf den anderen zum Pflegefall. Er ist heute gelähmt, kann nicht sprechen und erkennt nicht einmal mehr seine engsten Angehörigen.
Das Operationsvideo ist spurlos verschwunden
Was sich an diesem Tag im Operationssaal des KSA abgespielt hat, ist Gegenstand eines laufenden Haftpflichtverfahrens. Für das KSA geht es um mindestens 2,5 Millionen Franken, sollte das Gericht zum Schluss kommen, dass der damals am Spital tätige Arzt Fehler gemacht hat. Für ihn gilt die Unschuldsvermutung. Brisant: Obwohl in der Klinik für Neurochirurgie am KSA seit Jahren alle Operationen auf Video aufgezeichnet werden, ist ausgerechnet das Video jenes Eingriffs verschwunden. Die CD mit der relevanten Operationssequenz ist nicht mehr auffindbar.
Der Arzt hat das KSA kurz nach diesem Vorfall verlassen und arbeitet seither an einem anderen Spital. Das KSA hält fest, der Wechsel des Arztes stehe in keinem Zusammenhang mit der Operation. Javier Fandino war in die Operation nicht involviert, hat als Klinikchef und damaliger Vorgesetzter des Arztes aber Kenntnis davon. Recherchen der AZ zeigen, dass er sich intern für eine Untersuchung des Falls starkgemacht hat – unter anderem weil das OP-Video nicht auffindbar ist und weil er glaubt, die Komplikation hätte möglicherweise verhindert werden können.
Ungefähr zur gleichen Zeit gingen in den neurochirurgischen Abteilungen des KSA und des anderen Spitals auch anonyme Schreiben ein. In einem Brief, welcher der AZ vorliegt, wird jener Eingriff am KSA und eine weitere Operation des gleichen Arztes angeprangert, bei der eine Patientin wenige Tage nach der Behandlung starb. Gegen den Arzt läuft ein Verfahren wegen fahrlässiger Tötung. Wieder muss geklärt werden, ob er einen Fehler gemacht hat.
Wegen der anonymen Briefe sahen sich die Chefs der beiden Spitäler offenbar zum Eingreifen gezwungen. Der AZ liegt eine schriftliche Weisung von KSA-CEO Robert Rhiner an Javier Fandino und sein Team vor. Der Spitalchef verpasste dem Chefarzt einen regelrechten Maulkorb. Rhiner wies Fandino und auch die weiteren Mitarbeitenden in der Neurochirurgie an, «sich über die jeweils andere neurochirurgische Klinik oder über eine Behandlung nicht zu äussern». Darunter versteht der CEO, dass weder öffentlich noch gegenüber Patienten oder Dritten «irgendetwas in irgendwelcher Form» erwähnt wird. Kurz nach dieser Weisung ging bei der Aargauer Staatsanwaltschaft auch eine Strafanzeige gegen unbekannt ein. Derzeit läuft ein Verfahren mit mehreren Beschuldigten wegen übler Nachrede. Einer von ihnen: Javier Fandino. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Die Vorfälle liegen Jahre zurück. Trotzdem sind sie im Zusammenhang mit Fandinos sofortiger Freistellung von Interesse. Im Haftpflichtfall um den Mann, der nach der Operation am KSA zum Pflegefall wurde, liegt seit November ein Expertengutachten vor. Dieses kommt zum Schluss, dass die Operation «operations-technisch betrachtet nicht korrekt durchgeführt» wurde. Das Gutachten hat Gerhard Hildebrandt verfasst. Er war von 2004 bis 2007 Präsident der Gesellschaft für Neurochirurgie. Javier Fandino ist heute designierter Präsident der Gesellschaft.
Hat der Chefarzt offen Partei für die Gegenseite ergriffen?
Liegt in einem Haftpflichtfall ein Expertengutachten vor, wird dieses im Normalfall intern von einem Spezialisten aus dem gleichen Fachbereich geprüft. Im KSA ist das Javier Fandino, wenn es um neurochirurgische Fälle geht. Das KSA bestätigt auf Anfrage, dass ihm das Gutachten von Gerhard Hildebrandt vorgelegt worden sei und er sich gegenüber dem Rechtsdienst des Spitals dazu geäussert habe. Das Spital dementiert aber, dass das Haftpflichtverfahren gegen den ehemaligen KSA-Arzt einen Zusammenhang mit der sofortigen Freistellung von Fandino habe.
Anders beurteilen das Personen, die Partei im Haftpflichtverfahren sind. Sie vermuten, dass Fandino die Einschätzung des Gutachters teilt und auch davon ausgeht, dass die Operation seines ehemaligen Kollegen nicht «lege artis» erfolgt sei, also ein Kunstfehler vorliege. Damit würde sich Fandino nicht nur gegen seinen ehemaligen Mitarbeiter stellen, sondern vor allem auch gegen die Spitalleitung, für die es in diesem Haftpflichtfall um viel Geld geht.
Es ist somit höchst unwahrscheinlich, dass die KSA-Leitung noch einmal auf ihren Entscheid zurückkommt, wie es sich verschiedene Neurochirurgen wünschen. Auch Javier Fandino schreibt in seinem Brief an seine Fachgesellschaft, es sei an der Zeit, den Blick in die Zukunft zu richten. Er sei bereits in interessanten Gesprächen und zuversichtlich, dass er bald mehr sagen könne. Seiner Passion – der Neurochirurgie und dem Einsatz für Menschenleben – bleibe er mit ganzem Engagement, Emotionen und Leidenschaft erhalten.
Das KSA hält im Hinblick auf den Neubau, in dem alle medizinischen Kliniken unter einem Dach zusammengeführt werden, den neuen Leitspruch «Vom Ich zum Wir!» hoch. Mit dem Ziel, die Zusammenarbeit im Interesse des Gesamtspitals weiter zu stärken. Fandino wird da nicht dabei sein.