Er kennt und fotografiert sie alle – aber essen mag Joseph Keller keine Pilze mehr

Sieht aus wie eiene Koralle, ist aber ein nicht-essbarer Orangenseitling (Bild: Joseph Keller)
Sieht aus wie eiene Koralle, ist aber ein nicht-essbarer Orangenseitling (Bild: Joseph Keller)

WALD-INITIATIVE

Am 25. November entscheidet der Aargauer Souverän, ob der Kanton für den Wald deutlich mehr Geld zahlen soll oder nicht. Im ersten Teil unserer Serie begleiten wir einen Pilzler und sprechen mit ihm über seine Beziehung zum Wald. In den nächsten Tagen begleiten wir Förster, Jogger und weitere Personen in den Wald

«Angefangen hat alles über den Magen», sagt Josef Keller, bevor er auf einem langen Waldspaziergang zwischen Untersiggenthal und Würenlingen die Geschichte davon erzählt, wie er zu den Pilzen kam. Oder die Pilze zu ihm. Josef, vier Kilometer später «der Sepp», spricht vom Wald wie von einem guten alten Freund.

«In den 50er-Jahren hat man hier eher in ärmlichen Verhältnissen gelebt», sagt der Untersiggenthaler. «Wir kamen mit unserer Mutter in den Wald, um Brennholz zu sammeln. Sie kochte auf einem Holzkochherd.» Damals war Sepp erst sechs oder sieben Jahre alt. Seit einem Jahr ist der ehemalige Tiefbauzeichner pensioniert.

Augen wie eine Röntgenbrille
Er erinnert sich gerne an die Zeiten, als der Besuch im Wald noch eine Notwendigkeit und kein Hobby war. Nebst dem Brennholz nahm die Mutter auch Eierschwämme mit nach Hause: «Die mochte ich unglaublich gerne. Und das kam mir mit 25 Jahren wieder in den Sinn.» Er habe zuerst seine jugendlichen Hörner abstossen müssen, bevor er im Wald die Pilze und die Ruhe suchte, sagt Sepp.

Seine Augen sind wie eine Röntgenbrille für Pilze. Immer wieder hält er an und erkennt auch die unscheinbarsten Hüte im Dickicht. «Das ist ein Bovist. Er wächst auf Holz. Innen hat er eine Konsistenz wie Kaugummi. Da tut man sich nicht unbedingt etwas Gutes, wenn man den in die Pfanne haut.» Seit 25 Jahren ist Sepp in Untersiggenthal Pilzkontrolleur. Der häufigste Anfängerfehler sei, dass die Pilzsammler oftmals Pilze mitnähmen, die bereits alt und nicht mehr geniessbar seien. «Ich sage ihnen dann, sie sollen auf das Aussehen achten und nur die Pilze aus dem Wald mitnehmen, die sie auch im Laden kaufen würden.»

15 Stunden verbringt Sepp jede Woche im Wald. Er findet ihn spannend. Die frische Luft, die Natur – im Wald kann er herunterfahren. Er sucht aber nicht nur Ruhe, sondern auch die Begegnung: «Ich treffe im Wald auf Gleichgesinnte, Menschen, die die Natur geniessen.»

Fotografieren statt essen
Sepp trägt eine digitale Spiegelreflexkamera um den Hals. Er sammelt die Pilze heute nur noch auf der Speicherkarte: «Ich habe einfach zu viele Pilze gegessen. Es ist mir von einer Saison auf die andere ganz plötzlich verleidet.» Sepp hatte vor einem Jahr so viele Überstunden, dass er einen Monat früher in Pension hätte gehen können. «Da es aber genug zu tun gab auf der Arbeit, blieb ich bis zum Schluss und kaufte mir dafür mit dem Geld eine neue Kamera.» Sepp schätzt die Vielfalt der Pilze, obwohl er sie nicht mehr isst. Er ist passionierter Pilzfotograf.

Es sei schwer abzuschätzen, wie viele Pilzarten er kennt. Sepp vermutet zwischen 500 und 1000. Pilze, deren Namen, Konsistenz und Gerüche er innert Sekunden benennen kann. Mit deutschem und mit botanischem Namen, wie er während des Spaziergangs durch den Wald immer wieder beweist: «Das ist ein Goldröhrling, ein Suillus Grevillei.

Er ist essbar. Er wächst nur unter Lerchen.» Vor Sepp erstreckt sich ein zirka 20 Meter hoher Baum. «Der Pilz gibt dem Baum Wasser und Salz. Der Baum gibt dem Pilz Zucker, den er aus der Fotosynthese gewinnt. Das ist eine Lebensgemeinschaft.» Sepp stellt den Pilz aufrecht wieder zurück an den Ort, wo er ihn abgetrennt hat, «damit die Pilzsporen wieder in den Boden können.»

Die Natur hat Priorität
Der Wald ist Sepp wichtig. Menschen, die ihn mit Abfall verschmutzen, machen den 67-Jährigen wütend. Einmal habe er eine Neonröhre gefunden. «Wie kommt eine Neonröhre in den Wald?», fragt er. Auch Pilzfreunde könnten den Wald verletzen. «In der Morchelsaison, gibt es Leute, die gruppenweise sammeln.» Das sei per se nicht das Problem. «Aber manche Gruppen machen Kolonnen und es wird alles niedergewalzt.» Dann sehe man an gewissen Stellen kein Bärlauchblatt mehr, das gerade steht.

Sepp kennt den Wald gut und respektiert die Natur. An einer Gabelung hält er an und steigt ins Unterholz. Bei einer Gruppe von Buchen erzählt er, wie er sich vor fünf Jahren gemeinsam mit dem Pilzverein Region Baden beim Gemeinderat von Würenlingen dafür stark gemacht hat, dass die bereits gekennzeichneten Bäume nicht gefällt werden. «Darunter wuchs der isabellfarbige Schneckling. Ein schöner, stämmiger Pilz. Diesen hatten wir hier noch nie gefunden.» Sie wollten ihn schützen, denn auch dieser Pilz kann nur wachsen, wenn die entsprechenden Bäume in der Nähe sind.

Am liebsten kommt Sepp im Frühling in den Wald, wenn das Treiben anfängt. Oder im Herbst. Dann wird es farbig. Er könne sich nicht vorstellen, an einem Ort zu wohnen, der nicht in der Nähe des Waldes sei.

Geld sinnvoll einsetzen
«Der Wald hat sich verändert. An Stellen, wo der Wald bewirtschaftet wurde, sind die schönen Moosböden mit den Heidelbeerstauden häufig weg», sagt Sepp. Für einen Pilzler sei das nicht schön. Er macht aber nicht den Förstern allgemein einen Vorwurf. Es komme immer auf den Förster und die Bewirtschaftungsmethode an. Dem Wald gehe es nicht schlecht, aber: «Es gibt Stellen, an denen Kahlschläge gemacht werden, das gefällt mir gar nicht.» Sepp zeigt auf eine Lichtung. «Hier wurde nach einem Kahlschlag vor zehn Jahren alles liegengelassen, daraus ist ein Wildwuchs entstanden. Das tut mir weh, wenn ich das sehe.» Ihm würde es gefallen, wenn man den zusätzlichen Batzen aus der Waldinitiative für die Pflege solcher Stücke einsetzen würde.