Er tötete mit über 30 Messerstichen, dennoch ist er kein Mörder – heute steht der junge Kroate vor Gericht

Es war eine Tat, die die Region schwer erschütterte: Am Abend des 17. Januar 2019 wurde die 66-jährige Hildegard Enz Rivola blutüberströmt vor ihrer Haustüre an der Erlinsbacherstrasse in Aarau gefunden. Die Nachbarn hatten ihre Hilfeschreie gehört und waren ihr zur Hilfe geeilt. Kurze Zeit später erlag die 66-Jährige im Spital ihren schweren Verletzungen. Mehr als 30-mal hatte jemand auf ihren Oberkörper eingestochen. Vom Täter und von der Tatwaffe fehlte vorerst jede Spur.

Ab diesem Abend liefen die Ermittlungen auf Hochtouren: Für die Klärung des Tötungsdeliktes bildete die Kantonspolizei Aargau eine Sonderkommission und arbeitete mit einem Team der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau praktisch ununterbrochen an diesem Fall. Mittels Flugblättern baten die Kantonspolizei und die Staatsanwaltschaft sogar die Bevölkerung um Hilfe. Knapp einen Monat später–am 12. Februar – verhafteten die Polizisten einen 28-jährigen Kroaten aus Unterentfelden. Bei ihm fanden die Ermittler auch die mutmassliche Tatwaffe. Der Beschuldigte bestritt den Tatvorwurf zuerst, mittlerweile ist er aber geständig.

Täter ist laut Gutachten schuldunfähig

Im vergangenen Dezember wurde bekannt, dass der Mann, der Hildegard Enz Rivola das Leben genommen hat, laut psychiatrischem Gutachten schuldunfähig ist. Beim jungen Kroaten wurden eine paranoide Schizophrenie und ein schädlicher Konsum von Alkohol und Kokain diagnostiziert. Seine Einsichtsfähigkeit sei zum Zeitpunkt der Tat aufgehoben gewesen. Er hatte vorher Alkohol, Marihuana und Kokain konsumiert.

Deshalb hat die Staatsanwaltschaft keine Anklage wegen Mordes und mehrfachen Betäubungsmittelkonsums erhoben. Stattdessen beantragt sie die Anordnung einer stationären therapeutischen Massnahme in einer geschlossenen Einrichtung. Diese Massnahme wird umgangssprachlich auch kleine Verwahrung genannt.

Die Staatsanwaltschaft wirft dem Kroaten vor, Hildegard Enz Rivola getötet zu haben, weil er die Absicht hatte, nach der Tat in ihre Wohnung zu ziehen. Zwischen den beiden bestand keine persönliche Beziehung. Wie es im Inneren der Wohnung aussah und dass die Seniorin dort allein lebte, wusste der spätere Täter allerdings genau: 2015 hatte der Angeklagte bei ihr Sanitärarbeiten durchgeführt.

Antrag auf Massnahme enttäuscht die Angehörigen

Vor einem Monat war der erste Todestag von Hildegard Enz Rivola. Zu diesem Anlass organisierten Freunde des Opfers einen Gedenkmarsch für «Hildi», wie sie sie liebevoll nannten. Willkommen waren alle, die ein Zeichen gegen Gewalt setzen wollten: «Für uns wurde ein zentraler Mensch aus dem Leben gerissen. Eine Mutter, Freundin und enge Vertraute, die immer ein offenes Ohr und ein warmes Herz hatte», sagte ihr Sohn Ivor Rivola damals gegenüber der Aargauer Zeitung. Er meldete sich seit dem Tötungsdelikt an seiner Mutter zum ersten Mal öffentlich zu Wort. Dass der Täter schuld- unfähig sein soll, enttäuschte die Angehörigen: «Wir als Opferfamilie und viele Freunde und Bekannte sind fassungslos», sagte der Sohn. «Ich weiss nicht, was ein erwachsener Mensch noch alles tun muss, um schuldfähig zu sein.»

Die Staatsanwaltschaft geht gestützt auf das Gutachten davon aus, dass ohne stationäre psychiatrische Behandlung ein hohes Risiko besteht, dass der Beschuldigte erneut Straftaten begehen könnte. «Mit der stationären Massnahme ist gewährleistet, dass der Mann keine Gefahr für die Öffentlichkeit mehr darstellt», sagte der erfahrene Strafverteidiger Urs Oswald gegenüber der Aargauer Zeitung. In der Regel wird die Massnahme für eine Dauer von höchstens fünf Jahren ausgesprochen. Der Erfolg der Therapie wird nach fünf Jahren überprüft. Die Massnahme kann entsprechend verlängert werden, wenn vom Täter weiterhin eine Gefahr ausgeht.

Der Beschuldigte befindet sich aktuell im vorzeitigen Strafvollzug. Der Prozess gegen ihn beginnt heute Mittwoch um 13 Uhr. Die AZ berichtet live aus dem Gerichtssaal in Aarau.