
Es darf ein bisschen weniger sein: Wenn Perfektionismus dem Erfolg im Weg steht
Ich liebe Perfektion. Was ich mache, will ich nicht nur gut machen, sondern so gut wie nur möglich. Muss ich mein Mobiltelefon ersetzen, recherchiere ich stundenlang, bis ich überzeugt bin, das am besten auf meine Bedürfnisse zugeschnittene Modell gefunden zu haben. Will der Sohn das Geigenspiel erlernen, buche ich vier Probelektionen, um die für ihn beste Lehrperson zu finden. Und statt früher Feierabend zu machen, lese ich meinen Zeitungsartikel lieber ein weiteres Mal durch, um keine Fehler drin zu haben. Das erwartet bestimmt auch die Leserschaft von mir.
Deswegen von Perfektionismus zu sprechen wäre vermessen. Das würde ja laut Duden-Definition von einem «übertriebenen» Streben nach Perfektion zeugen. Der hohe Anspruch würde zur Schwäche, zum Problem. Möglicherweise müsste ich sogar darüber nachdenken, etwas daran zu ändern. Genau dazu rät der deutsche Psychologe und Psychotherapeut Tom Diesbrock in seinem neuen Buch: «Lass mal locker», so lautet schon der Titel.
Woran das Musikerdasein scheiterte
Doch wo soll nun das Problem bei hohen Ansprüchen, beim ständigen Streben nach höchster Qualität liegen? Diesbrock erzählt ein Beispiel aus seinem eigenen Leben. Mit Anfang zwanzig wollte er als Musiker und Komponist leben und gründete mit einem Bekannten ein Tonstudio. Sie nahmen jede Menge Songs auf, aber keinen brachten sie ganz zu Ende, weil nichts ihnen auch nur annähernd gut genug erschien. Sein «kleiner Perfektionist», wie Diesbrock diesen Charakterzug nennt, wurde zum Verhinderer.
Kommt mir nur allzu bekannt vor. Auf meiner Festplatte dümpelt eine umfangreiche Sammlung unveröffentlichter Songs vor sich hin; keine dieser Demoaufnahmen genügt den Ansprüchen, die ich an eine Veröffentlichung stelle. Und da gibt es auch einen Ordner mit angefangenen Prosawerken mit dem Anspruch, der nächste Dürrenmatt zu werden. Oder der Stapel an Papierkram in meinem Gestell, der wächst und wächst, weil ich jeden einzelnen Posten sorgsam aufs Beste erledigen will. Trotzdem: Die Erwartungen an mich selber herunterzuschrauben kommt nicht in Frage. Denn bei tieferen Erwartungen würde auch die Leistung schlechter werden. Oder?
Nicht Dürrenmatt, aber doch erfolgreich
Im Rahmen der Journalismusausbildung hatte ich einst einen Kurs in kreativem Schreiben besucht. Bevor wir loslegten, hiess man uns, unsere Ansprüche auf ein Blatt Papier zu notieren. Anschliessend mussten wir es zu einem Papierflieger falten und aus dem Fenster werfen. Symbolisch von unseren Ansprüchen befreit hauten wir dann in die Tasten. Und siehe da: Es kamen Texte heraus, die bestimmt nicht schlechter waren, als was wir sonst lieferten.
Kursleiterin war Milena Moser. Sie hat nicht den Ruf eines Dürrenmatts, ihre Bücher aus jener Zeit gelten als «leichte Kost». Doch sie ist erfolgreiche Autorin und damit weit näher an Dürrenmatt, als ich es bin.
Ich muss mir eingestehen, Tom Diesbrock hat recht: Perfektionismus kann ein Problem sein. Und dies nicht nur in kreativen Prozessen. Im Job droht schlimmstenfalls ein Burn-out. Der Versuch, den eigenen Körper zu «perfektionieren», kann in die Magersucht oder zu Gesundheitsschädigungen durch Anabolika führen. Und wer sich aufopfert, um der perfekte Partner, die perfekte Partnerin zu sein, verliert an Attraktivität und kann damit letztlich die Beziehung in Gefahr bringen.
Wir mögen imperfekte Menschen – Hans-Rudolf Merz hat sich als Bundesrat mit seinem Bündnerfleisch-Lachanfall vor laufender Kamera mehr Sympathiepunkte geholt als mit sämtlichen fehlerfreien Auftritten:
Das heisst nicht, dass hohe Ansprüche per se schlecht wären. Im Gegenteil, sie können Ansporn sein, und seine Sache richtig gut zu machen, kann sehr zufrieden machen. Es gibt auch Tätigkeiten, wo Perfektion unabdingbar ist – die Herzchirurgin darf sich keine Fehler erlauben. Aber muss sie ausserhalb des Operationssaals auch noch einen makellosen Haushalt und ein vorbildliches Sozialleben führen?
Die Küche ist kein Operationssaal
Zum Problem wird der Perfektionismus, wenn die Sätze beginnen mit: «Ich muss…» Statt Zwang ist Flexibilität gefragt. Die Chirurgin darf auch mal das Geschirr ungewaschen in der Küche stehen lassen, den Lions-Club-Apéro ausschlagen und dem Sohn im Bett ein Video abspielen statt eine Gutenachtgeschichte zu erzählen. Statt sich für das Erreichen der Ziele noch mehr anzustrengen, können diese auch niedriger gesteckt werden. Also fürs Erste eine dreiseitige Kurzgeschichte schreiben statt auf den Jahrhundertroman hinzuarbeiten.
Sich im Kopf vom Perfektionismus zu lösen, ist leichter gesagt als getan. Das Gute daran: Es gibt rasch Erfolgserlebnisse– etwa wenn es endlich gelingt, den Papierkramstapel im Regal auf die Hälfte zu reduzieren. Eine gute Voraussetzung ist die Erkenntnis, dass Perfektion nicht das Nonplusultra ist. Auch das Gegenteil kann cool sein.
Imperfektion, das ist Meghan statt Kate. Daniel Craig statt Pierce Brosnan. Pippi Langstrumpf statt Annika.
P.S.: Ich hoffe, Sie haben beim Lesen keine Fehler entdeckt. Falls doch: Sie sehen, ich arbeite an mir.