Fast ein Viertel der Bewohner starb am Coronavirus: Wie eine Pflegerin den Massenausbruch im Alterszentrum erlebte

Die Coronapandemie hat das Alterszentrum Bruggbach in Frick Ende 2020 mit voller Wucht erwischt. Nachdem das Zentrum dank mustergültiger Vorkehrungen und eines eigenen Contact-Tracing-Systems gut durch die erste Coronawelle gekommen war und bis im Spätherbst nicht einen Coronafall unter den Bewohnern verzeichnen musste, schlug der «fiese Geselle», wie Andre Rotzetter, Geschäftsführer des Vereins für Altersbetreuung im oberen Fricktal (VAOF), das Virus nennt, im Dezember umso härter zu. 80 Prozent der Bewohner erkrankten im Dezember und Januar am Coronavirus. 24 starben. Fast ein Viertel der Bewohner.

24-mal hiess es für Mitbewohner und Personal: Abschied nehmen von einem Mitglied der grossen Bruggbach-Familie. Ein Steller mit den Namen erinnerte im Foyer an die Verstorbenen.

Jeder Todesfall hinterliess eine Lücke

Jeder Todesfall sei hart gewesen, habe eine Lücke in die Gemeinschaft gerissen, habe eine Lücke in ihr hinterlassen, sagt Nadja Meier heute, zwei Wochen nach dem letzten Todesfall.

Nadja Meier ist Abteilungsleiterin im dritten Stock. Zusammen mit 17 Kolleginnen und Kollegen betreut sie 19 Bewohner. Sechs fielen im Dezember dem Coronavirus zum Opfer. Sie hat sich lange überlegt, ob sie ihre Erfahrungen dem Journalisten erzählen will. Sie entschied sich dafür, «weil es mir wichtig ist, dass auch einmal die Pflegenden zu Wort kommen».

Skypen statt treffen während des ersten Lockdowns

Was Meier zu erzählen hat, ist zugleich erschütternd wie hoffnungsstiftend, zugleich traurig wie tröstend. Eine Chronologie des Coronajahrs 2020 im Alterszentrum.

Mitte März 2020. Das Virus grassiert, greift immer mehr um sich, fordert auch in der Schweiz die ersten Toten. Erster Lockdown. Das Alterszentrum Bruggbach wird für Besucher geschlossen. Meier sagt:

«Die Bewohner und Angehörigen trugen die Massnahmen gut mit.»

Man findet alternative Strategien für die Bewohner, damit sie mit ihren Angehörigen in Kontakt bleiben können. So verfügt inzwischen jede Abteilung über iPads, mit denen die Bewohner mit ihren Familienangehörigen skypen, «ins Wohnzimmer der Familie eintauchen können», wie Meier sagt. Sie lacht, wie sie an die ersten Einsätze der iPads zurückdenkt. «Den einen oder die andere versetzte die Technik schon ins Staunen.»

Auch die Abteilungen wurden im Lockdown angepasst; die Aktivierungen, die sonst im Parterre stattfinden, wurden kurzerhand auf die Stöcke verlegt.

«Wir versuchten, den Bewohnern einen Teil der Zeit zurückzugeben, die sie nicht mit ihren Angehörigen verbringen konnten.»

Persönlich hat sich Nadja Meier «sehr sicher gefühlt», war froh, arbeiten zu können. «Ich musste nie Angst um meine Existenz haben, denn Pflegepersonal wird immer und gerade in der jetzigen Krise gebraucht», erzählt die 42-Jährige. Nicht allen ging es so; viele bangten um ihre Zukunft, bangen bis heute um ihre Existenz. «Insofern bin ich privilegiert», sagt Meier.

Seit März arbeiten alle mit ­Schutzmaske

Sie fuhr, wie viele Pflegende, wie viele Schweizer überhaupt, ihre sozialen Kontakte massiv zurück. «Weil jeder von uns eine Verantwortung trägt.» In der Altersbetreuung ist diese besonders hoch, denn das Virus ist für Hochbetagte brandgefährlich. Inzwischen weiss man: Kommt es in einem Altersheim zu einem Corona-Ausbruch, sterben zwischen 20 bis 50 Prozent der Erkrankten.

Mit Corona kommt für das Personal auch die Maskenpflicht. Seit März arbeiten im Bruggbach alle mit Maske. Lange mit der «normalen» Schutzmaske, seit dem Corona-Ausbruch im Dezember mit der FFP2-Maske. Das Arbeiten rund um die Uhr unter der Maske sei am Anfang schon lästig gewesen, sagt Meier. Strapaziös auch. «Aber man gewöhnt sich daran.» Es müsse sein. Für die Sicherheit.

Ein Gedanke schwang dabei bei Meier und ihren Kollegen stets mit, schwingt noch heute mit. Der Gedanke, man könnte das Virus ins Alterszentrum einschleppen. Der Gedanke:

«Hoffentlich bin nicht ich es.»

Man lernt mit diesem Gedanken zu leben, weiss, dass es jeder sein kann. «Das Einzige, was man tun kann, ist, die Schutzregeln einzuhalten.»

Die Coronazeit habe die Abteilung zusammengeschweisst, bilanziert Meier. «Wir sind noch mehr zu einer Familie zusammengewachsen.» In dieser Familie sind die Rollen eingespielt. Das Pflegeteam versucht, das Leben auf dem Stock so angenehm wie möglich zu gestalten, sodass sich die Bewohner wohlfühlen – zu Hause eben. Das sei gut gelungen, glaubt Meier – auch in der schwierigen Zeit Ende Jahr. Doch dazu später.

Abteilung testet das hauseigene Contact-Tracing-System

Spätsommer 2020. Der VAOF lanciert sein eigenes Contact-Tracing-System. Es funktioniert per Smartwatch und soll helfen, Infektionsketten schnell zu unterbrechen. Gelingt dies, müssen nur einige wenige und nicht das ganze Haus in Quarantäne. Die Abteilung von Nadja Meier gehörte zur Testgruppe. Die Smartwatch sei von den Bewohnern gut angenommen worden, blickt Meier zurück. Nicht wenige trugen ihre neue Uhr, die vom VAOF bezahlt wurde, mit Stolz. «Ein Erfolg», ist Rotzetter noch immer überzeugt.

Anfang Dezember 2020. Die ersten beiden Bewohner im Bruggbach erkranken an Corona. Das Contact-Tracing-System kann eine Ansteckung nicht verhindern, «die Auswertung zeigte mehrere interne Infektionsherde auf». «Die Vermutung war gross, dass es asymptomatische Bewohner im Bruggbach hat», sagt Rotzetter. Bis heute ist unklar, wie das Virus ins Zentrum kam.

Das «Wie» ist in diesem Moment auch nicht zentral. Wichtig ist: Es ist da. Und verbreitet sich rasant. Nadja Meiers erster Gedanke ist:

«Verhindern konnten wir es nicht – machen wir das Beste daraus.»

Ihr Bauchgefühl sagt: nicht gut; ihr Kopf hofft auf einen glimpflichen Ausgang.

Es kommt anders. Doch darüber macht sich Meier damals, am Samichlaustag, keine Gedanken. Sondern darum, wie sie ihre Abteilung organisiert, wie sie mit den positiven Fällen umgeht, wie mit denen, die (noch) keine Symptome haben. Immer begleitet sie dabei ein Gedanke, der sie und ihr Team durch den Arbeitstag trägt: «Wir schaffen das, wir müssen nur zusammenhalten.»

Sie halten zusammen. Wachsen aneinander. Wachsen zusammen. Auf der Abteilung, im ganzen Haus.

12. Dezember. Das Notfallkonzept greift. 12-Stunden-Schichten, Ferienstopp. Coronamassentest. Dass so viele Bewohner positiv sind, «hätte ich nicht erwartet».

Alles gegeben, doch verhindern lassen sich die Todesfälle nicht

Die einzelnen Stationen arbeiten nun nahezu autark. Wer nicht in Isolation ist, ist in Quarantäne. «Wir versuchten auch in dieser Zeit, dass es in der Abteilung wohnlich bleibt.» So gut es eben ging. Das Pflegeteam konnte sich längst nicht die Zeit für jeden Bewohner nehmen, die es sich gerne genommen hätte. Und nicht nur einmal kam jeder und jede an seine Grenzen. «Es gab Situationen, in denen man einfach nur noch irgendwie funktioniert.»

Die Diskrepanz zwischen der vorhandenen Zeit und dem Betreuungsbedürfnis der Bewohner macht Nadja Meier zu schaffen. Sie und ihre Kolleginnen geben ihr Bestes. Gerade auch für die Menschen, denen es nicht gutgeht, die ihre letzte Reise antreten müssen, schaufeln sie sich so viel Zeit wie möglich frei. «Die Sterbebegleitung in Coronazeiten ist ganz anders.» Intensiver. Aber notgedrungen, auch distanzierter. «Das möchte ich nicht noch einmal erleben», sagt sie. Sie überlegt kurz, fügt dann an: «Ich glaube aber, dass wir unser Möglichstes getan haben, damit es für alle ein würdiger letzter Gang war.»

Wichtig war ihr wie dem ganzen Haus dabei, dass die engsten Angehörigen dabei sein konnten, wenn es Zeit zum Gehen war.

Sechs Bewohner, sechs Familienmitglieder, forderte die Coronakrise auf ihrem Stock. Das Sterben gehört zwar im Altersheim dazu. So viele innert weniger Tage, «das hat ungemein betroffen gemacht», sagt Meier. Es habe sie auch etwas schwermütig gestimmt,

«denn wir gaben alles – und konnten die Todesfälle trotzdem nicht verhindern».

Gut tun ihr die Gespräche. Mit Kolleginnen und Kollegen, der Heimleitung, Angehörigen. Auch hier zeigt sich: Die Gemeinschaft ist es, die trägt. Wenn auch jeder selber mit der Situation klarkommen muss. «Die Verarbeitung der Todesfälle geht mehr an die Substanz als in einer normalen Situation.»

Weihnachten 2020. Die Coronafälle sind zum Glück abgeklungen, aber das Alterszentrum ist für Besuche nach wie vor geschlossen, die Bewohner noch in Quarantäne. Sie müssen ohne ihre Angehörigen feiern, für viele ist es das erste familienlose Weihnachtsfest überhaupt.

Die Türen bleiben offen, um gemeinsam Weihnachten zu feiern

Nadja Meier arbeitet am 24. Dezember. Ein Christbaum auf der Abteilung bringt etwas Weihnachtsstimmung auf die Abteilung. Die Türen zu den Zimmern sind geöffnet, man feiert miteinander, so gut es geht.

Bescherung. Viele Angehörige haben für ihre Eltern oder Grosseltern Geschenke abgegeben. Diese werden nun verteilt, die Freude bei den Bewohnern ist gross. Viele nutzen auch die Möglichkeit und skypen mit ihrer Familie. «Die Stimmung war den Umständen entsprechend feierlich», blickt Meier zurück, fügt aber sogleich an:

«Gleichwohl war es ein Weihnachten, wie es kaum jemand nochmals erleben möchte.»

6. Januar. Die Lage im Alterszentrum hat sich beruhigt, die ersten Besuche werden wieder möglich. Noch gibt es Einschränkungen, «aber Angehörige wie Besucher sind glücklich, dass sie sich wieder sehen können». Freudentränen bei den wiedervereinten Familien. Aufatmen bei den Angestellten. Durchatmen. Erholen.

«Was ich aus der Coronapandemie mitnehme?», wiederholt Nadja Meier die Frage, verstummt kurz, blickt durch das Fenster, nickt dann. «Vor allem eines: dass wir als Team zusammengewachsen sind. Jeder schaut jetzt noch mehr auf jeden.» Meier ist dafür dankbar. Auch dafür, dass das ganze Haus zusammenstand, stets Hand in Hand arbeitete. «Wir waren zu jedem Zeitpunkt gut informiert», lobt sie. Der Austausch zwischen Personal, Teamleitungen und Kader habe bestens und unkompliziert funktioniert. «Wir spürten eine grosse Wertschätzung von Seiten des Kaders», erzählt sie und nennt als Beispiel den kostenlosen Mahlzeiten- und Getränkebezug.

Stolz darauf, die Krise gemeinsam gemeistert zu haben

Sie sei schon auch etwas stolz darauf, dass sie die Krise mit allen traurigen Verlusten zusammen gemeistert hätten.

Das darf sie auch sein. Das dürfen alle Pflegekräfte sein. Sie leisten in dieser Krise Herausragendes.

Nachtrag. Bei der Geschäftsstelle gehen in den letzten Tagen und Wochen immer wieder E-Mails ein. Fast alle wollen nur eines sagen: Danke.

Ein Angehöriger schreibt: «Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen allen, Ihrem Team und dem ganzen Personal für den unermüdlichen und grossen Einsatz in den letzten Wochen bedanken.» Wochen, die streng und emotional waren und in denen das Personal an die Grenzen kam. «Trotz der grossen Belastung für alle wurden wir Angehörige immer gut über die Situation im Heim und den Gesundheitszustand unserer Mutter informiert. Auch während der Isolationszeit wurde unsere Mutter, so gut es halt ging, betreut und umsorgt. Meine Mutter fühlt sich wohl bei Ihnen und dafür sind wir, die ganze Familie, unendlich dankbar.»