
Frau am Steuer: Die verrückte Geschichte der ersten Schweizer Fernfahrerin
Ihre Hände umschlossen erstmals nahe Belgrad das Lenkrad eines Lastwagens. Da war Jrène Liggenstorfer 17 Jahre alt und brauste in Richtung Orient. Hinter sich gelassen hatte sie Lehrer, denen sie in den Ohren lag, ihre Abschlussprüfungen vorzuziehen und einen Vater, der tobte. Beide hatte sie überzeugt. Ein Monat und 12’000 Kilometer Strassen lagen vor ihr, um mit dem Bruder einer Freundin nach Teheran zu fahren.
Damit nahm auch eine Liebesgeschichte Fahrt auf. Ueli Liggenstorfer wurde nicht nur ihr heimlicher Fahrlehrer, sondern später auch ihr Mann und der Vater ihrer drei Kinder.
Es war im Frühling 1973 als Jrène Liggenstorfer erstmals durch das kommunistische Jugoslawien und über die staubigen Pisten Ostanatoliens nach Teheran mitfuhr. Ohne GPS, ohne Handy. Dafür mit einer Schachtel voll mit Karten und dem Sonnenstand als Orientierungshilfe. Eigentlich wollte die junge Frau Mechanikerin werden. Doch ihr Vater verhinderte dies.
Vorerst beugte sich Liggenstorfer seinem Willen und meldete sich für die Ausbildung zur Pflegefachfrau an. Hoch und heilig musste sie ihren Eltern versprechen, dafür rechtzeitig aus dem Orient zurück zu sein. Doch als sie am Tahirpass in der Osttürkei mit der 16-Gangschaltung des Lastwagens klarkam und das 18 Meter lange Gefährt mit Anhänger zu steuern verstand, wusste sie: Fernfahrerin wollte sie später werden.
Ein Unbekannter schnitt ihr den Rossschwanz ab
Wieder zu Hause lehrte sie – ohne das Wissen ihres Vaters – nicht nur im Spital ihr Handwerk, sondern auch in einer LKW-Fahrschule. Ihre Eltern stellte sie nach ihrer Ausbildung vor vollendete Tatsachen. Das Nasenrümpfen der Verwandtschaft ignorierte sie: «Dass ich statt als Krankenschwester nun als Fernfahrerin arbeitete, war für viele ein sozialer Abstieg. Einige wandten sich von mir ab.» Sie stellt dies achselzuckend fest.
Die heute 65-Jährige sitzt im Büro ihres Hauses nahe Thun, in dem nur das eine oder andere Kamelfoto einen Hinweis auf die Orientfahrten gibt. Liggenstorfer erzählt bildhaft – und in hohem Tempo. Wie auf einer rasanten Fahrt, verliert sich dabei das Zeitgefühl. Landschaften und Geschichten fliegen nur so an einem vorbei.
Im Iran brutzelt Jrène Liggenstorfer mit einem Fernfahrer-Kollege eine Schweizer Fertigrösti.
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Obwohl die Route immer dieselbe war, hätte sie jede der zehn Fahrten in den Iran gefordert: Kleinere Pannen, endloser Papierkram oder ein schwer erkrankter Kollege aus dem Tessin, der unter ihrer Anleitung von den Fernfahrern aufgepäppelt und zurück nach Europa gebracht wurde.
«Häufig prägten lange Wartezeiten am Zielort unsere Fahrten», sagt Liggenstorfer. Sie nutzte diese, um durch die Basare Teherans zu streifen oder Vorräte aufzustocken. Es waren die letzten Jahre, in denen der Schah regierte; der spätere islamische Revolutionsführer Chomeini mobilisierte aus dem Exil.
Das Erstarken dieser militanten Kräfte bekam auch Liggenstorfer zu spüren. Als sie mit zwei Kollegen einkaufen ging, näherte sich ihr ein Mann von hinten, riss an ihrem Rossschwanz und hackte diesen mit einer Machete ab. «Als Lastwagenfahrerin habe ich vermutlich seine patriarchale Denkweise zu stark bedroht», sagt sie. Fortan stülpte sie sich eine Kappe über.
Zahlreiche Schweizer steuerten in den 1970er-Jahren grosse Camions in den Iran oder gar nach Pakistan. Liggenstorfer beschreibt diese Zeit als «Orientboom». Sie fuhr stets in Doppelbesatzung mit ihrem Mann. Gemeinsam brachten sie ganze Anhänger voller Haarföhns, Nähmaschinen oder auch mal einen Range Rover nach Teheran.
Im Iran wird Schweizer Fertigrösti gebrutzelt
Oft taten sich mehrere Fahrer zu kleineren Konvois zusammen. Man traf sich spontan an den Brunnen entlang der Route, wo die 50-Liter-Wassertanks aufgefüllt wurden, auf Rastplätzen oder in legendären Fernfahrer-Beizen. «Ueli und mir schlossen sie sich gerne an. Er besass viel Erfahrung und beherrschte mehrere Sprachen. Meine Ausbildung als Krankenschwester entspannte die anderen zusätzlich.»
Zwei Jahre nachdem der Iran in die Hände der Mullahs gefallen war, wollte Jrène Liggenstorfer unbedingt nochmals dorthin fahren. Doch die Probleme begannen bereits in Bern. Die iranische Botschaft vermutete, dass sie eine verdeckte Journalistin sei und weigerte sich, ihr ein Visum auszustellen. Da holte sie ihren Lastwagen, parkte ihn direkt vor die Botschaft und verstellte die Zufahrt. «Das hat gewirkt, ich bekam die Papiere noch am selben Tag», sagt sie.
Es sind solche Anekdoten, welche die Frage fast erübrigen, wie sie sich in der Männerwelt der Fernfahrer durchsetzen konnte. Deren Kollegschaft und Hilfsbereitschaft untereinander sei riesig gewesen, auch ihr gegenüber, erzählt Liggenstorfer. Frauen, die in den Orient fuhren, seien rar gewesen. Erst bei ihren späteren Fahrten in Europa lernte sie eine weitere Schweizer Fernfahrerin kennen. «Ich fühlte mich von den Männern stets respektiert. Wenn sie sich mit mir einen Spass erlaubten, nahm ich das mit Humor.»
Ein Geburtstag wird mit Stalden-Crème gefeiert.
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Auf Campingkocher brutzelten sie ihre Vorräte aus der Schweiz: Fertigrösti, Pasta, Erbsli und Rüebli. Hatte jemand Geburtstag wurden Dosen mit Stalden-Crème geöffnet. «Sie war für uns der Inbegriff eines Desserts.»
Mit den politischen Umwälzungen änderte sich auch die Auftragslage. In den 1980er-Jahren blieben im Nahen Osten fast nur noch Saudi-Arabien als Zielort der Frachten übrig. Als Frau war es Jrène Liggenstorfer untersagt, dort zu fahren. Selbst auf dem Beifahrersitz ihres Mannes, der mehrfach Baumaterial nach Riad brachte, bekam sie kein Visum. Hat sie das geärgert? «Nein, es war meine grosse Chance», sagt sie.
Ohne GPS und ohne Handy: Jrène Liggenstorfer unterwegs nach Rumänien.
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Fortan schickte ihr Chef sie auf Fahrten in ganz Europa. Allein und in «ihrem» Lastwagen. Auf Rastplätzen übernachtete sie und kratzte an frostigen Morgen das Eis von der Innenseite ihres Camions. Eine Standheizung gab es nicht. Nach einigen Jahren, in denen sie sowohl einem Lastwagendiebstahl als auch einer Lawine nur knapp entkam, beschlossen sie und ihr Mann, sesshaft zu werden.
Der kleine Sohn auf dem Beifahrersitz
Nach der Geburt ihrer Söhne fuhr sie als Aushilfsfahrerin – und nahm jeweils eines ihrer Kinder auf die Fahrten mit. Auch Sohn Ueli Liggenstorfer, der heute als Journalist arbeitet. Er erinnert sich: «Im Lastwagen fuhr ich erstmals ans Meer. In Genua hielt meine Mutter an, damit ich diese Weite auf mich wirken lassen konnte. Ich war überwältigt.» Sonst hiess es: Ruhig sitzen, nicht am Armaturenbrett herumhebeln. «Dieses Truckerleben mitzubekommen, war toll», sagt er. Die Faszination der Eltern sprang über: Zwei der drei Söhne besitzen den LKW-Schein.
Seit Anfang dieses Jahrtausend gäbe es aber praktisch keine Schweizer Fernfahrerinnen und Fernfahrer mehr, sagt Jrène Liggenstorfer. «Es sind fast nur noch Osteuropäer zu Tiefstlöhnen unterwegs. Damit ist in der Schweiz eine ganze Branche untergegangen.» Um an diese zu erinnern, schrieb und gestaltete sie im Rahmen des Kulturprojekts «Edition Unik» ein Buch (Bestellung per Mail: vrthr@bluemail.ch). Darin hielt sie ihre und die Geschichten von zehn Gefährten fest – fast fünfzig Jahre nachdem sie sich erstmals hinter das Lenkrad eines LKWs schwang.