Frauen drängen auf Wahllisten: Auf die wohl grösste Demo folgen nun politische Forderungen

Nicht nur am Wochenende auf der Strasse waren es viele, auch bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst dieses Jahres werden die Frauen in grosser Zahl kandidieren. Die «NZZ am Sonntag» hat erhoben, wie viele Frauen auf den Hauptlisten der sechs grössten Parteien in den sieben grössten Kantonen antreten werden. Es sind so viele wie noch nie.

An der Spitze steht der Kanton Luzern, wo die Nationalratskandidatinnen mit 53 Prozent gar in der Überzahl sind. Im Aargau sind es 48 Prozent. In Zürich, Genf und Bern liegt der Frauenanteil deutlich über 40 Prozent, in St.  Gallen und der Waadt knapp darunter. In jedem einzelnen der sieben Kantone gibt es mehr Frauenkandidaturen als noch vor vier Jahren. Und: Sämtliche Parteien treten mit mehr Frauen an. Sogar die SVP, die der Frage kaum Interesse beimisst, bewegt sich. In allen sieben Kantonen hat sie den Frauenanteil auf den Wahllisten gesteigert.

Erfolgschancen wachsen stetig

Nun ist die höhere Beteiligung lediglich der erste Schritt zu einer ausgewogeneren Vertretung im Nationalrat. Entscheidend wird sein, wie viele dieser Kandidatinnen am 20. Oktober tatsächlich gewählt werden. Gegenwärtig beträgt der Anteil der Frauen im Nationalrat 32 Prozent, im Ständerat sind es 13 Prozent. Eine Studie des Politikwissenschafters und Mitarbeiters des Bundesamts für Statistik, Werner Seitz, gibt Anlass zur Hoffnung auf eine gleichmässigere Vertretung der beiden Geschlechter. Seitz hat die Wahlchancen von Kandidatinnen über die Zeit verglichen und ist zu einem eindeutigen Resultat gelangt: Die Erfolgsaussichten der Frauen werden immer besser.

Bei den letzten eidgenössischen Wahlen 2015 war die Erfolgsquote der Frauen so hoch wie nie. Der Anteil gewählter Frauen entsprach beinahe dem Anteil kandidierender Frauen. Das entsprechende Verhältnis lag bei 95,5 Prozent; 100 Prozent würden den Wahlchancen der Männer entsprechen. Auch wenn die Chancen damit noch leicht tiefer liegen: Der Fortschritt ist enorm. Bei der ersten Wahl mit Frauenbeteiligung im Jahr 1971 betrug diese Quote noch 32 Prozent. Danach stieg sie kontinuierlich an. Anders gesagt: Waren die statistischen Wahlchancen eines Mannes 1971 noch 3,5-mal grösser als bei einer Frau, so sind die Chancen heute beinahe ausgeglichen.

Für ambitionierte Politikerinnen sind das gute Nachrichten. Nicht nur ist es einfacher geworden, auf eine Wahlliste zu kommen. Auch sind die Wahlchancen gestiegen. Für die kommenden Nationalratswahlen zeichnet sich damit eine Rekordzahl gewählter Frauen ab.

Frauenkandidaturen im Ständerat

Im Ständerat zeigt sich dieselbe Tendenz. Noch nie haben mehr Frauen für die kleine Kammer kandidiert als dieses Jahr. Damit stehen die Chancen gut, dass die derzeitige Untervertretung – von 46 Sitzen sind lediglich 6 von Frauen besetzt – korrigiert wird. Politische Beobachter gehen von etwa elf Frauen aus, die im Herbst in den Ständerat gewählt werden. Damit würde man wieder den bisherigen Höchststand aus dem Jahr 2003 erreichen.

Im Parlament gibt es zudem Anstrengungen, den Frauen noch mehr Schub zu geben. Ein Vorstoss der Grünen will die Parteien verpflichten, bei den Nationalratswahlen gleich viele Frauen auf die Wahllisten zu setzen wie Männer. Chancen dürfte dieses Ansinnen allerdings wenig haben: Vor gut einem Jahr lehnte das Parlament einen ähnlich lautenden Vorstoss der Grünen für eine Mindestquote von einem Drittel mit 133 zu 52 Stimmen deutlich ab.

GLP will Männerlisten abstrafen

Bessere Aussichten dürfte eine Idee der Grünliberalen haben. Parteipräsident Jürg Grossen will die Parteien mit finanziellen Anreizen motivieren, mehr Frauen auf die Wahlliste zu setzen, wie die «Sonntags-Zeitung» schreibt. Künftig sollen die Bundeshausfraktionen nur noch Geld vom Bund erhalten, wenn sie mit ausgewogenen Listen antreten. Der Richtwert soll 40 Prozent betragen, sagt Grossen auf Anfrage. Wer diesen Richtwert schweizweit erreicht, soll weiterhin die vollen Fraktionsbeiträge erhalten. Wer darunterfällt, muss mit Kürzungen rechnen. Grossen sagt: Wer sich nicht für die Gleichstellung engagiert, soll dies auch finanziell zu spüren bekommen.» Für Grossen ist die Frauenvertretung im Parlament eminent wichtig. Er sagt: «Wir werden die Gleichstellung erst erreichen, wenn mehr Frauen im Bundesparlament politisieren.»

Das Ausland blickt auf die Schweiz

Der Frauenstreik hat nicht nur die Schweiz aufgewühlt, auch im Ausland hat man
die Demonstration zum Teil ausführlich gewürdigt. Der italienische Fernsehsender Rai widmete der Schweiz in den Hauptnachrichten eine grosse Reportage und schloss mit einem Interview mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga. Ein grosses Thema ist der Streik in der «Süddeutschen Zeitung». Gleich in zwei Artikeln widmet sich das Blatt dem helvetischen Unruhezustand. Mit einer gewissen Verwunderung protokolliert die Korrespondentin, dass sich selbst das Bundesparlament am Streik beteiligt habe. Auch wenn «die Rechtspopulisten» Einspruch erhoben hätten.

Die französischen Zeitung «Libération» bezeichnet die Schweiz als eine Gesellschaft, «wo der Sexismus und die Ungerechtigkeit weit verbreitet bleiben». Auch wundert man sich, wieso das Stimmrecht für Frauen und die Legalisierung der Abtreibung so lange auf sich warten liessen.

Mit von der Partie war auch der britische «Guardian». «Die Schweiz liegt bei der Gleichstellung der Geschlechter hinter vielen ihrer europäischen Nachbarn zurück», schreibt der Korrespondent zum Anlass des Streiks. Und weist hin auf die späte Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971 sowie das patriarchale Eherecht, das erst 1988 geändert wurde.

Von einem «schwachen Leistungsausweis» bei Gleichstellungsthemen berichtet das britische Wirtschaftsblatt «Financial Times». Für die «New York Times» symbolisiert der Frauenstreik eine «Frustration über tiefverwurzelte Ungleichheiten in einem der reichsten Länder der Welt». 28 Jahre nach der letzten grossen Kundgebung hätten die Frauen ihrem Ärger über die schleppenden Fortschritte Luft gemacht, schreibt das Weltblatt. Die Schweiz sei normalerweise kein Land der grossen Proteste und noch weniger von Generalstreiks, schrieb die spanische Tageszeitung «El Pais». Aber am Freitag sei es so weit gewesen, als die Frauen gegen Lohndiskriminierung und sexuelle Gewalt auf die Strasse gegangen seien.

Selbst in Lateinamerika sprach man über die Schweiz. Von Mexiko bis Argentinien wurde die aussergewöhnliche Aktion in den Medien thematisiert. Die Zeitung «La Nación» aus Buenos Aires liess dabei schon in ihrem Titel Verwunderung durchblicken: «In einem der reichsten Länder der Welt machten die Frauen einen Streik.» (rob/cav/sat)