
Frühjahrsmüdigkeit: «Es ist nicht ratsam, am Morgen noch lange liegen zu bleiben»
Die Sonne scheint und die ersten grünen Blätter spriessen an den Bäumen. Während die Natur langsam aus dem Winterschlaf erwacht, stecken manche Menschen noch mittendrin: Sie fühlen sich im Frühjahr müde und abgeschlagen. Bettina Isenschmid, Chefärztin des Kompetenzzentrums für Essverhalten, Adipositas und Psyche im Spital Zofingen, erklärt die Ursachen des Phänomens und gibt Tipps, was Betroffene dagegen tun können.
Wer behauptet, an Frühjahrsmüdigkeit zu leiden, dem wird oft vorgeworfen, die Beschwerden seien nur eingebildet. Gibt es das Phänomen also wirklich?
Bettina Isenschmid: Beschwerden sind subjektiv immer real vorhanden und müssen in jedem Fall ernst genommen werden, so auch das Gefühl, im Frühling besonders müde, schlapp und weniger leistungsfähig zu sein.
Was löst diese Müdigkeit aus?
Im Winter ziehen wir uns oft zurück, schlafen mehr, halten uns weniger draussen auf und kommen so auch weniger in den Genuss von Tageslicht. Auch ist der Himmel, wenigstens im Unterland, häufig bedeckt, sodass wir die Sonne seltener sehen und oft frieren. Da es früher dunkel und später hell wird, sind wir auf künstliches Licht angewiesen. Bei vielen Menschen führen alle diese Faktoren zu gedämpfter Stimmung und verringertem Antrieb.
Welche Rolle spielt dabei das Essen?
Durch die veränderte Ernährung mit weniger Frischprodukten und das fehlende Sonnenlicht kann es auch zu Mangelerscheinungen bei Vitaminen und Spurenelementen kommen. Die Ernährung fällt oft deftiger und kalorienreicher aus, es wird mehr Süsses konsumiert, sodass viele Menschen über die Wintermonate an Gewicht zulegen. Bricht dann der Frühling an, so regen uns Wärme und Sonne an, das Vogelgezwitscher weckt den Antrieb am Morgen, aber mit der winterlichen Hypothek fällt uns das Durchstarten schwerer. Wir bemerken dies als Frühjahrsmüdigkeit, was oft paradox oder unverständlich wirken kann.
Wer ist am häufigsten betroffen?
Davon können grundsätzlich alle Menschen betroffen sein, jedoch sehen wir dieses Phänomen bei Kindern seltener, häufiger bei Menschen ab der Lebensmitte oder solchen mit Mehrfachbelastungen. Unsere Gesellschaft, die jederzeit Leistung fordert, gesteht den Menschen kaum noch Zeit für Anpassungen zu. Daher machen sich viele Menschen Vorwürfe, dass sie im Frühling nicht einfach fit und fröhlich sind.
Bis wann hält das Phänomen jeweils ungefähr an?
Meist beginnt es im Februar oder März und hält in unseren Breitengraden bis in den April hinein an. Bis im Mai haben dann die meisten Menschen auf den sommerlichen Rhythmus gewechselt. Eine Erschwernis dabei ist auch oft die Umstellung auf Sommerzeit, welche die innere Uhr wieder stören kann.
Was kann man dagegen tun?
Allgemein wird empfohlen, sich im Winter und Frühfrühling viel draussen zu bewegen, auch wenn die Sonne nicht scheint, und sich gesund und vitaminreich zu ernähren. So soll beispielsweise auf eine genügende Vitamin D-Zufuhr durch den Konsum von fettreichem Fisch oder Milchprodukten geachtet werden. Regelmässige und ausreichend lange Schlafphasen sind wichtig. Es ist jedoch nicht ratsam, am Morgen noch lange liegen zu bleiben. Am Abend sollte man nicht zu lange künstlichem Licht ausgesetzt sein, Fernseher, Handy und Tablets gehören nicht ins Schlafzimmer. Teilweise können auch Lichttherapielampen eingesetzt werden, die besonders bei der saisonalen Depression wirksam sind. Nicht zu vergessen sind auch zwischenmenschliche Kontakte, sie regen uns an.
Welche anderen Ursachen können hinter ständiger Müdigkeit stecken?
Chronische Müdigkeit kann viele Ursachen haben, sowohl körperliche als auch psychische. Dazu gehören zum Beispiel Eisen- oder Vitamin B12-Mangel, Blutarmut, eine Unterfunktion der Schilddrüse, ein schwelender Infekt oder auch anhaltende Schlafstörungen. In psychischer Hinsicht muss man an Belastungsreaktionen oder Depressionen denken, deren Leitsymptom am Anfang oft Müdigkeit ist. Auch können verschiedene Medikamente Müdigkeit als Nebenwirkung auslösen. Allgemein sind heutzutage viele Menschen ständig müde, Termindruck und steigende Anforderungen in der Arbeitswelt und im Privatleben fordern ihren Tribut.