
Fünf Jahrzehnte im Klassenzimmer: Ein Lehrer und der Zeitenwandel


Draussen wirbeln Schneeflocken wild durch die Luft. Drinnen in der Gaststube des Gasthofs Bären in Aarburg ist es warm und ruhig an diesem Nachmittag. Im hinteren Teil sitzt René Gangwisch am Fenster an einem Holztisch für vier Personen. «Jeden Freitag ass ich hier mit Lehrerkollegen zu Mittag», sagt der pensionierte Sekundarlehrer und fährt fort: «Damals waren freitags ein Kaffee und ein Dessert im Menupreis inbegriffen.» 53 Jahre ist das Erzählte her. Für den in Murgenthal geborenen und in Rothrist aufgewachsenen René Gangwisch war es seine erste Stelle als Primarlehrer. Der heute 72-Jährige nimmt aus einer Klarsichtmappe das Skript seines Vortrags «Schule gestern und heute» – den er am 13. Februar in Rothrist hält – und ein Schwarz-Weiss-Foto von damals. Fast lückenlos kann er die Namen seiner damaligen Schüler aufzählen. «Mit einigen hat sich der Kontakt bis heute gehalten», sagt er sichtlich gerührt und gesteht: «Ich habe für die Schule gelebt.»
Nach drei Jahren in Aarburg (1966 bis 1969) bildete er sich zum Sekundarlehrer weiter und bekam 36 Stellenangebote. In Strengelbach, wo er sich beworben hatte, wurde er aber wegen seiner langen Haare nicht angestellt. «Noch am selben Tag ging ich zum Coiffeur, schaute mir die Briefe an und vereinbarte ein Gespräch in Jonen.» Drei Jahre lang unterrichtete er im Schul- und Gemeindehaus im Kelleramt. Doch sein Herz schlägt für die Region und für Rothrist, wo er sich in verschiedenen Vereinen engagiert und im Schulhaus
Dörfli unterrichtet hatte. So hatte René Gangwisch trotz Pensionsalter mit 65 nicht genug vom Schulbetrieb. Bis 2013 war der pensionierte Sekundarlehrer im «Dörfli» anzutreffen, wo er gesamthaft 40 Jahre ein und aus ging.
Seelsorger und Psychiater
Lehren und Wissen weitergeben, ist immer noch seine Passion. Ob als ehrenamtlicher Deutschlehrer für Asylsuchende sowie fremdsprachige Ausländerinnen und Ausländer in Rothrist oder bei seinen zahlreichen Nachhilfeschülern, zu denen er nach Hause fährt. René Gangwisch hat seine Maximen und er mag das Unkonventionelle. Statt zum Elternabend einzuladen, besuchte er jeweils seine Schüler bei ihnen zu Hause. «So habe ich ein ganzheitliches Bild erhalten», verrät der umtriebige Mann, der sich immer auch als Seelsorger und Psychiater verstand.
Der Vater zweier erwachsener Töchter und dreifache Grossvater ist sich bewusst, dass er die Messlatte nicht nur für sich sehr hoch steckt. «Da bleiben Enttäuschungen nicht aus», gesteht der ehemalige Lehrbeauftragte und Praxislehrer an der HPL in Zofingen und meint: «Ich warte auf ein Grounding der Schule. Die Rahmenbedingungen werden immer komplexer.» Besonders stört er sich daran, dass die Lehrer durch die «Reformitis» ständig beschnitten werden. «Die Einführung der geleiteten Schule war für mich der Anfang des Endes», sagt Gangwisch, der die überbordende Bürokratie als Hindernis sieht. «Lehrer müssen den Grossteil für die Schüler da sein können und sich nicht um Verwaltungskram kümmern müssen.»
«Ich bin wohl ein Auslaufmodell»
Ob privat, im Schul- oder Lehrerzimmer – wenn René Gangwisch etwas beschäftigt, thematisiert er es. «Ich bin wohl ein Auslaufmodell», bemerkt er, und dabei schwingt ein Hauch Wehmut mit. Verständlich, denn aus seinen Erzählungen ist zu erahnen, mit wie viel Herzblut er sich für die Schule und vor allem auch für die Schüler eingesetzt hat. «Die Entwicklung vom Lehrer zur Lehrperson hat dazu geführt, dass ich austauschbar geworden bin.» Einzigartig wird Gangwisch für seine ehemaligen Schüler dennoch bleiben.
In seinen 47 Jahren als Lehrer waren es wohl insgesamt über 1000 Schüler. Gangwisch weiss viele Geschichten und Anekdoten zu erzählen. Ob von der dreitägigen Velotour, die er mit zwei Lehrerkollegen in den Sommerferien für seine Schüler freiwillig anbot, oder den Schwimmlektionen, die er seinen Aarburger Schülern der 4. Primar gab. «Um 7 Uhr mussten sie vor der Badi bereitstehen, dafür konnten alle am Ende der fünften Primar schwimmen», sagt Gangwisch und strahlt. Selber konnte er den Kindergarten nicht besuchen, weil es keinen gab. Trotzdem sei aus ihm etwas geworden, bemerkt er mit einem schelmischen Zwinkern.
«Regeln zu setzen und sich konsequent daran zu halten, ist eine Herausforderung, vor der heute viele allzu schnell kapitulieren», bedauert der leidenschaftliche Lehrer. Dass er als autoritär und streng galt, machte ihm nichts aus: «Ich habe immer auf die Selbstständigkeit der Schüler gesetzt.» Sein Fokus sei immer darauf ausgerichtet gewesen, nicht nur Unterrichtsstoff zu vermitteln, sondern auch Sozialkompetenz. Dabei habe er auf ein achtsames Miteinander gepocht, indem gegenseitige Hilfe ebenso dazugehörte, wie den Abfall aufzuheben. Bis zu seiner letzten Schulstunde gab Gangwisch seinen Sekundarschülern die Hand zum Gruss und Abschied. Und für eine gute Leistung gab es von ihm ein Lob oder einen Achselklopfer. «Jeder Mensch braucht Zuwendung, Anerkennung, aber auch Grenzen», betont René Gangwisch.
Mehr gesunden Menschenverstand
Wenn er auf die Schule schaut, wünscht er sich mehr gesunden Menschenverstand als Messlatte und weniger Normen, die ohnehin nicht miteinander verglichen werden könnten. Kritisch ist er auch der Pisa-Studie gegenüber eingestellt. Die Schweiz mit Finnland in der Sprachkompetenz zu vergleichen, sei überflüssig. «Dann gilt es auch bei diesen beiden Ländern den Anteil der Fremdsprachigen zu beachten», sagt er und meint: «Dass die Schüler im Lesen mittelmässig abschneiden, wissen alle, die wenigsten aber, dass unsere Schüler in Mathematik europaweit einen Spitzenplatz belegen.» Sein Referat «Schule gestern und heute» soll ein Rück- und Ausblick und eine Auslegeordnung sein, die hilft einzuordnen. «Früher war nicht alles besser, aber auch nicht alles schlecht», sagt Gangwisch und betont: «Gerade wenn es um die Förderung und Begleitung von jungen Menschen geht, gilt es, einen massvollen Weg zu finden.»
Referat «Schule gestern und heute» von René Gangwisch am Mittwoch, 13. Februar, 14 Uhr, im Zehntenhaus der EMK beim Rössli-Kreisel in Rothrist.