«Für die Bevölkerung schwer zu verstehen»: Aargauer Jugendanwalt über Täter-Fokussierung, belastende Verbrechen und unvergessliche Begegnungen

Hans Melliger

Der 65-Jährige ist in Sarmenstorf aufgewachsen, wo er auch heute noch lebt. Er ist verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Kindern und zweifacher Grossvater. Hans Melliger studierte in Zürich Rechtswissenschaft, machte das Anwaltspatent, arbeitete als Betreuer in der damaligen Arbeitserziehungsanstalt Uitikon. 1988 kam er als Jugendanwalt zur Jugendanwaltschaft Aargau, der er fast 34 Jahre lang treu blieb. 2005 wurde er vom Grossen Rat zum leitenden Jugendanwalt gewählt. Hans Melliger ist bekannt als kommunikativer und geselliger Mensch. Er engagiert sich in verschiedenen kulturellen Sparten und ist ein über die Region hinaus bekannter Laienschauspieler.

Am Ende seines drittletzten Arbeits­tages steht Jugendanwalt Hans Melliger im leeren Gewächshaus der ehemaligen Gärtnerei seiner Eltern. Die Leere beschäftigt ihn. «Hier muss etwas geschehen», sagt er. Ein Gewächshaus, in dem nichts wächst und gedeiht, das kann er nur schwer akzeptieren. Bald hat er Zeit. Vielleicht wird er selber anpflanzen. Wird ein bisschen zu dem, was schon sein Vater war: Gärtner.

Hans Melliger ist ein guter Kommunikator. Es ist ihm gelungen, der diskret arbeitenden Jugendanwaltschaft ein Gesicht zu geben. Wenn in den Medien ein Experte in Sachen Jugendkriminalität gefragt war, war häufig Hans Melliger zur Stelle, der geduldig erklärte, was es mit dem Jugendstrafrecht auf sich hat. Und warum jugendliche Straftäter in erster Linie Schutz und Erziehung brauchen. Und nicht Strafe.

Das Büro in Aarau ist geräumt. Auch für die wuchtige Yucca-Palme, die er vor Jahren von einer Mitarbeiterin erbte, hat er einen neuen Platz gefunden. Die letzten zwei Arbeitstage sind gefüllt mit Abschied.

Danach hat Hans Melliger Raum und Zeit zur freien Verfügung. Für die Familie. Für das spektakuläre Theaterstück «Grabenstorf», das er mitinitiiert hat, und in dem er eine wichtige Rolle spielt. Zudem wartet das Gewächshaus.

Ihre Eltern hatten eine Gärtnerei in Sarmenstorf. Sie sind als Gärtnersbub aufgewachsen. War es da nicht naheliegend, dass Sie auch Gärtner werden?

Hans Melliger: Ich liebe die Arbeit im Garten, die Bäume, den Wald. Aber Gärtner als Beruf? Nein, das war kein Thema. Mein Vater hatte Freude, dass ich studierte. Einen Juristen kann man überall brauchen, sagte er. Er wäre selber gerne länger zur Schule gegangen. Das war aber damals nicht möglich. Er arbeitete zuerst in der Strohindustrie; wurde entlassen, machte dann eine Gärtnerlehre und eröffnete zusammen mit meiner Mutter die Gärtnerei in Sarmenstorf.

Dann also Jurist statt Gärtner. Wie kam das?

Die Antwort ist erschreckend banal: Ich wusste nach der Matur nicht recht, was ich studieren sollte. Mich interessierte fast alles: Ich war fasziniert von Theater, Film und Literatur – eine Begeisterung, die mein damaliger Kantilehrer Ludwig Storz stark gefördert hat. Mich interessierten Journalismus und Kommunikation, ich trieb intensiv und begeistert Sport – ja, auch Lehrer zu werden, hätte ich mir vorstellen können.

Sie wurden dann aber Jugendanwalt. War das auch Zufall?

Nein. Während meines Jusstudiums wurde mir rasch klar, dass ich als Jurist nicht in eine Bank oder ein Unternehmen passen werde. Ich merkte aber auch, dass mir die Beschäftigung mit dem Jugendstrafrecht gefällt und mir die Arbeit mit straffällig gewordenen Jugendlichen liegt. Nach dem Studium habe ich ein Jahr lang in der damaligen Arbeitserziehungsanstalt Uitikon gearbeitet. Das war eine äusserst lehrreiche Zeit und hat mich in meinem Entschluss bestätigt.

Woher rührt Ihre Verbindung zur Jugend?

Prägend war wohl mein Aufwachsen mit anderen Jugendlichen, zuerst im Dorf, später in der Region. So etwa in der Jungwacht, im Jugendforum, im Handballclub, an der Kanti oder später im Theater. Ich will das nicht verherrlichen; es gab da schon auch Schwieriges. Aber die gemeinsamen Erlebnisse in der Zeit des Erwachsenwerdens, des Aufbruchs, schufen Identität, Wurzeln und Zuversicht.

Hatten Sie als Jugendlicher auch einmal mit der Jugendanwaltschaft zu tun?

Nein. Aber da war auch viel Glück und Zufall dabei.

 

Was sagen Sie zur These: Ihre Motivation für die Arbeit mit straffälligen Jugendlichen rührt auch daher, dass Sie überzeugt sind, dass die allermeisten jugendlichen Täter früher oder später den Tritt im Leben finden werden.

Ich bin Optimist. Zudem gibt mir die Statistik recht: Die allermeisten Jugendlichen, mit denen wir es auf der Jugendanwaltschaft zu tun haben, finden ihren Weg im Leben als gesetzestreue Bürgerinnen und Bürger. Nur rund fünf Prozent der straffälligen Jugendlichen sind Intensivtäter. Die haben dann aber oft so viele Probleme, dass manchmal alle Massnahmen nichts nützen.

Was bedeutet das?

Rund ein Drittel der Intensivtäter landen eher früher als später in der Psychiatrie, im Gefängnis oder auf dem Friedhof. Aber das sind die traurigen Ausnahmen. Die hohe Erfolgsquote ist natürlich nicht nur unser Verdienst. Die Eltern, die Schule oder Institutionen leisten da stets einen wesentlichen Beitrag – und es braucht die Bereitschaft der Jugendlichen, mitzumachen.

Von aussen gesehen ist die Jugendanwaltschaft ein seltsames Konstrukt. Der Jugendanwalt ist Untersuchungsrichter, ist Einzelrichter, ist anklagende Behörde und erst noch Vollzugsbeamter. Warum ist das so?

Das geschieht im Interesse des straffälligen Jugendlichen. Ich mache ein Beispiel: Ich verhafte als zuständiger Jugendanwalt morgens um drei Uhr einen 16-jährigen Täter, der einen Raubüberfall begangen hat. Ich setze ihn in U-Haft. Ich ermittle vor Ort, erstatte Anklage vor Gericht und vollziehe das Urteil. Er kommt nach Aarburg ins Jugendheim. Ich betreue ihn dann zusammen mit meiner Sozialarbeiterin während seiner Zeit im Jugendheim und gratuliere ihm, wenn er seinen Lehrabschluss gemacht hat. Ich bin während des ganzen Verfahrens seine Bezugsperson.

Nun könnte man einwenden: Ist es richtig, dass einer, der einen Raubüberfall begeht, danach eine Berufslehre machen darf?

Das ist schon fast eine Belohnung. Der wegleitende Grundsatz des Jugendstrafrechts heisst Schutz und Erziehung. Wir müssen uns bei unserer Arbeit losgelöst vom Opfer allein auf den Täter fokussieren. Für die Bevölkerung ist das manchmal schwer zu verstehen. Ziel ist, die Jugendlichen mit geeigneten Massnahmen so weit zu bringen, dass sie nicht mehr rückfällig werden.

Was halten Sie von einer Verschärfung der Strafen für jugendliche Straftäter, wie sie heute verschiedentlich gefordert wird?

Die Erfahrung aus ein paar hundert Jahren Menschheitsgeschichte lehrt, dass eine isolierte Strafe dem Täter nichts nützt. Sie schadet eher. Auf jugendliche Täter bezogen: Die brauchen die richtigen Massnahmen, die Schutz und Erziehung ermöglichen. Strafe ist häufig ein Teil davon. Aber nicht der entscheidende. Und ich kann allen Kritikern versichern: Das Leben auf der Aarburg ist eine harte Lebensschule. Zudem kann die Jugendanwaltschaft in begründeten Fällen Täter bis zum 25. Lebensjahr wegsperren.

Die Jugendanwaltschaft behandelt pro Jahr zwischen 2500 und 3000 Dossiers. Sie kann aber erst tätig werden, wenn jemand Anzeige erstattet hat.

Ja, das ist so. Bevor einer etwas anstellt und angezeigt wird, können wir nicht eingreifen. Wer Probleme hat, macht Probleme. Und landet früher oder später bei uns. Aber nochmals: Mindestens 80 Prozent der Jugendlichen, mit denen wir zu tun haben, sind gute Jugendliche, die einfach mal einen Blödsinn gemacht haben oder vielleicht auch zweimal.

Stimmt es, dass ausländische Jugendliche häufiger angezeigt werden als Schweizer?

Auch das ist eine Tatsache. Ausländische Jugendliche sind, gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil, bei Anzeigen übervertreten. Sie sind für rund ein Drittel der angezeigten Delikte verantwortlich. Aber man sollte daraus keine falschen Schlüsse ziehen.

Welches sind die richtigen Schlüsse?

Aus dem Ausland stammende Jugendliche haben oft eine schwierige soziale Ausgangslage und schlechte Startbedingungen wie Sprachschwierigkeiten, Traumatisierung oder Armut. Bei Schweizer Jugendlichen, die eine ähnlich schwierige soziale Ausgangslage haben, ist die Häufigkeit von Straftaten ähnlich hoch. Entscheidend ist also nicht die Nationalität, sondern die soziale Ausgangslage.

Was empfanden Sie bei Ihrer Arbeit als besonders belastend?

Kapitalverbrechen wie Tötungs- oder Sexualdelikte sind sehr belastend. Wenn Opfer zu beklagen sind und sich das Geschehene nicht wieder gutmachen lässt. Oder tragische Ereignisse: Wenn, wie vor einigen Jahren passiert, ein Jugendlicher mit dem Traktor einen Unfall verursacht und einen anderen Jugendlichen dabei tödlich verletzt. Ein Unglück mit lebenslänglichen Folgen für den Täter und zwei Familien. Zunehmend schwer tue ich mich mit rechtsextremen Jugendlichen; die Verleugnung und die Ignoranz der geschichtlichen Fakten ist manchmal schwer zu ertragen.

Wie hat sich Ihre Arbeit in den letzten Jahren verändert?

Die Digitalisierung hat unsere Arbeit sicher effizienter gemacht. Andererseits ist sie aber auch ein leicht zugängliches Transportmittel für Delikte wie Pornografie, Cyber-Mobbing oder Extremismus. Drogen und Waffen etwa sind relativ einfach via Darknet erhältlich. Viele Jugendliche sind mit den unbegrenzten Angeboten der digitalen Konsumwelt überfordert, können gar nicht mehr zwischen gut und schlecht entscheiden. Es gibt aber auch Themen, die kommen wellenmässig alle paar Jahre wieder. Aktuell haben die Gewaltdelikte wieder stark zugenommen. Wohl auch als Folge der Pandemie.

Verändert haben auch Sie sich: Als Sie 1988 anfingen, waren Sie höchstens 15 Jahre älter als Ihre Klienten. Heute beträgt die Altersdifferenz beinahe 50 Jahre. Wie gehen Sie damit um?

Als gesetzter Mann und zweifacher Grossvater geniesse ich wenigstens bei den Eltern ein gewisses Grundvertrauen. Sie merken schnell, dass ich ihrem Kind aus einer Krise helfen will. In den ersten Jahren war da anfänglich oft ein Misstrauen zu spüren. «Haben Sie überhaupt auch Kinder?!», wurde ich da oft gefragt. Mir hilft die Erfahrung aus bald 34 Jahren im Umgang mit Delikten und jungen Menschen. Ich habe schon viel gesehen und erkenne die Muster. Auch wenn jeder Fall für sich einzigartig ist.

Wurden Sie mit den Jahren strenger oder doch eher nachsichtiger?

Es gibt eine klare rote Linie. Die darf nicht überschritten werden. Aber ich denke mit zunehmendem Alter und mit der Erfahrung als gestandener Familienvater, ziehe ich die rote Linie vielleicht etwas weiter aussen als früher, nütze den Ermessensspielraum aus. Fehler machen ist ein Menschenrecht. Und Krisen kennen wir alle.

Sie lieben Ihren Beruf. Man sagt Ihnen nach, dass Sie sich am Sonntagabend oft auf die Arbeit am Montagmorgen gefreut haben.

Das ist so. Ich durfte fast 34 Jahre lang das tun, was ich gerne mache und was mir liegt. Es tut auch gut zu wissen, dass die Arbeit der Jugendanwaltschaft in der Bevölkerung grosse Wertschätzung geniesst. Bei der Jugendanwaltschaft sind im Jugendstrafrecht gestalterische Fähigkeiten erwünscht. Das hat mir immer gefallen. Wir können Einfluss nehmen einzeln und als Team.

Sie haben im Laufe Ihrer Tätigkeit gegen rund 12’000 junge Menschen aus dem Aargau persönlich ermittelt. Gibt es dabei auch Begegnungen, die unvergesslich sind?

Ja. Zum Beispiel diese: Vor vielen Jahren wurde ich einmal mitten in der Nacht im Pikett-Dienst aufgerufen. Die Umstände verlangten, dass ich einen Jugendlichen verhaften und eine Hausdurchsuchung anordnen musste. Wiederum Jahre später war aus dem straffälligen Jugendlichen ein anerkannter Künstler geworden, der mich bat, an seiner Vernissage die Laudatio zu halten.

Sie wollten sieben Jahre bleiben. Nun sind fast 34 daraus geworden. Was ist da passiert?

Ich habe zweimal einen Wechsel in Betracht gezogen. Einmal ging es darum, ob ich zusammen mit einem Freund eine eigene Anwaltskanzlei eröffnen wollte. Ein anderes Mal erhielt ich ein Angebot, eine Institution in einem anderen Kanton zu leiten. So verlockend beide Möglichkeiten waren: Mir wurde klar, dass ich auf der Jugendanwaltschaft meinen Traumjob bereits hatte und ihn nicht aufgeben wollte.

Sie werden 65 und müssen deshalb aufhören. Damit verliert die Jugendanwaltschaft von einem Tag auf den andern 34 Jahre Erfahrung.

Das kann man so sehen. Andererseits tut ein Wechsel nach so langer Zeit auch beiden Seiten gut. Er ist eine Chance, sich weiterzuentwickeln, er sorgt für Bewegung und schafft Platz für Neues.

Sorgen Sie sich um die Jugend Ihrer Enkel angesichts der globalen Konflikte und Probleme, welche die künftigen Generationen dringend lösen müssen?

Ich habe keine Zukunftsangst. Fatalismus liegt mir nicht. Wer an einem See wohnt und Angst hat, sein Kind könnte darin ertrinken, kann zum Schutz eine Mauer ringsherum bauen oder das Kind schwimmen lernen. Ich empfehle den Schwimmunterricht, obwohl auch hier das Risiko des Untergehens besteht. Ich bin einer, der sagt: «Das chond guet.» Das ist meine Art. Da kann ich nichts dafür.

Wenn dieser Text erscheint, ist Hans Melliger bereits pensioniert und wandernd unterwegs in Richtung Norden. Er geht allein, um Abstand zu gewinnen, und vielleicht geht er bis ans Meer.

Die Aufgaben der Jugendanwaltschaft

Das Jugendstrafrecht orientiert sich nicht primär an der Tat, sondern vor allem an der Täterpersönlichkeit und wird darum auch Täterstrafrecht genannt. Straffällig gewordene Jugendliche im Alter zwischen 10 und 18 Jahren sollen durch die Jugendanwaltschaft so mit Strafen und Schutzmassnahmen «behandelt» werden, dass die Jugendlichen nicht mehr rückfällig werden.

Die Jugendanwaltschaft nimmt dabei alle jugendstrafrechtlichen Funktionen wahr und ist deshalb zuständig für die Strafuntersuchung, die vorsorgliche Anordnung von Schutzmassnahmen, die Entscheidfällung (Strafbefehle, Einstellungen), die Anklage vor Jugend­gericht und schliesslich auch für den Vollzug der Entscheide.

Das Team der Jugendanwaltschaft Aargau zählt 30 Mitarbeitende. Es besteht aus Jugendanwältinnen, Sozialarbeitern und Sachbearbeiterinnen. Die Leitung der Jugendanwaltschaft hat am 1. Oktober die bisherige Stellvertreterin Jayyousi Gil von Hans Melliger übernommen. Im Schnitt behandelt die ­Jugendanwaltschaft pro Jahr rund 2800 Fälle.