Gedanken zu Auffahrt: Das Geheimnis der Welt

Wo ist Gott? Weshalb verbirgt er sich? Warum greift er nicht sichtbar ein in den Lauf der Weltgeschichte? Wo ist er, wenn Menschen nach ihm schreien, am Leben verzweifeln? In der Geschichte von Christi Himmelfahrt geht es genau um diese Erfahrungen, Fragen und Zweifel. Auf einmal konnten die Jünger Jesu nicht mehr sehen: «Eine Wolke nahm Jesus auf und entzog ihn ihren Blicken» (Apg 1, 9). Gebannt starrten sie ihm nach. Der, auf den sie all ihre Hoffnung gesetzt hatten, verschwand. Er entzog sich ihrer sinnlichen Wahrnehmung. Waren sie nun wirklich allein? Sie erfuhren schmerzhaft: Glauben heisst nicht Schauen. Hoffen bedeutet, sich auf eine Kraft zu verlassen, die nicht offensichtlich ist. Wer glaubt, hofft und liebt, gibt aber gerade nicht auf, nach dem Verborgenen zu suchen, über das hinaus zu fragen, was unmittelbar erfahrbar ist.

Dem Geheimnis ein Leben lang auf der Spur bleiben
Die Geschichte der Auffahrt erzählt von dieser bleibenden Sehnsucht. Hinter allem Sichtbaren verbirgt sich ein Geheimnis, das wir nicht endgültig enträtseln, dem wir aber ein Leben lang auf der Spur bleiben können. Von «Gott als Geheimnis der Welt» (Eberhard Jüngel) berichten nicht nur die Worte der Bibel, sondern auch ein eindrückliches steinaltes Wandgemälde, das in der kleinen Dorfkirche von Montcherand am Südfuss des Waadtländer Juras zu sehen ist. Die dortige Kirche gehörte in früheren Zeiten zu einem Cluniazenserpriorat und liegt an der Kreuzung zweier grosser mittelalterlicher Pilgerrouten, der Via Jacobi, die nach Santiago de Compostela führt, und der Via Francigana vom englischen Canterbury nach Rom. Der Chor des Kirchleins birgt wertvolle romanische Wandmalereien aus dem 12. Jahrhundert.

Von Christus sind leider – nein: sinnigerweise! – nur noch die Füsse erhalten. Dass die Restauratoren des 20. Jahrhunderts die Christusfigur nicht malerisch rekonstruierten, sondern als Fragment beliessen, zeugt von theologischer Weisheit. Denn damit sagt dieses Bildfragment mehr über den christlichen Glauben aus, als es ein vollendetes Kunstwerk tun könnte. Die Stelle der Christusfigur nimmt nun ein grosses weisses Rund ein. In der Mitte der Apsis ist nichts zu sehen. Die Mitte des Glaubens ist erfüllt vom unergründlichen Geheimnis Gottes. Dieses Weiss stellt dabei aber weder eine Leere noch ein abgründiges Nichts dar. Vielmehr erinnert es an die Verborgenheit Gottes hinter allem und an seine gleichzeitige geheimnisvolle Anwesenheit in allem.

Der Blick wendet sich sodann den Rändern zu, so wie sich auch die Jünger neu umsehen mussten. Von den Wolken, die Gottes Gegenwart verbergen, werden sie an ihre irdischen Wege erinnert: «Was steht ihr da und schaut hinauf in den Himmel?», fragt der himmlische Bote. «Da kehrten sie vom Ölberg nach Jerusalem zurück.» Der Glaube hat sich im Hier und Jetzt, in diesem Leben und in dieser Welt zu bewähren.

Auf diese Füsse kommt es an! Sie weisen den Weg zu Gottes Geheimnis. Jesu Füsse sind zusammen mit seinen Freunden durch Galiläa gewandert, über staubige Strassen und steinige Pfade, aber auch über blühende Wiesen und dem Ufer nach am See Genezareth. Jesu Füsse haben die menschlichen Mühen, Leiden und Anstrengungen geteilt. Später hat manch müder Pilger hier vor diesem Bild seine schmerzenden Glieder ausgeruht und den Staub an seinen Füssen betrachtet. Wie oft haben hier schon geschundene Füsse und Menschen durch Gebet und Meditation wieder Kraft bekommen!

Die Füsse Christi auf dem romanischen Bildfragment sind nackt. Keine Sandalen, geschweige denn Wanderschuhe heutiger Pilger, schützen sie vor dem Erdboden und dem Kontakt mit der harten Realität. In Jesus Christus hat Gott diese Erde berührt und liess sich von ihr und von den irdischen Wegen berühren. In ihm kommen Himmel und Erde zusammen. Er bildet den runden Bogen vom Erdboden hoch zum Firmament, den Rahmen und Bogen um das Geheimnis Gottes.

Wo ist Gott? Verborgen und doch ganz nah. In den Füssen, die andere begleiten, tragen, ihnen nachgehen. Das Auffahrtsfest erinnert daran, dass wir zwischen Erde und Himmel nicht allein sind. Wir finden «unter unseren Füssen die Erde, aber Gottes offenen Himmel über uns und also seine Liebe mitten unter uns» (Jüngel).