
Gedanken zu Karfreitag: Gemeinschaft unter dem Kreuz
Wo Jesus ist, da entsteht Gemeinschaft. Wenn man im Neuen Testament die Berichte über Jesus liest, sticht der Leserin, dem Leser etwas ins Auge. Bei Jesus kommen die unmöglichsten Typen zusammen: Nationalisten, Freiheitskämpfer, die die Römer als Feinde ansehen, solche, die mit den Römern gemeinsame Sache machten und ganz apolitische Menschen. Da gab es starke Gegensätze unter seinen Jüngern und erst recht in der grossen Gruppe derer, die im nachfolgten.
Und dann? Je weiter sein Weg in Richtung Golgatha ging, um so einsamer wurde es um ihn her. Freunde setzen sich ab. Das heisst nicht, dass es an Menschen gefehlt hätte. Auch in der Passionsgeschichte wimmelt es um Jesus her von Menschen.
Auch unter dem Kreuz ist das so. Es wimmelt dort von Menschen: Hasser, Höhner und Zuschauer in ausreichender Zahl. Aber die Freunde, die hatten sich abgesetzt. So war Jesus mitten in dieser Menge todeinsam. Dass beides nebeneinander existieren kann, das erleben einige von uns auch in diesen Tagen.
Und nun entsteht unter dem Kreuz Jesu eine tiefe Gemeinschaft. Mitten unter den Feinden, unter den Henkern und Zuschauern stehen irgendwo zunächst am Rande ein paar Frauen, die auch mit Jesus gegangen sind. Seine Mutter ist dabei, und auch Johannes. Sie können dieses Leiden und Sterben nicht verstehen. Was wollen sie unter diesem Kreuz? Sie werden angezogen von der Liebe, die sie zu Jesus haben.
Die Tüchtigen, die Selbsthilfeaktivisten, die immer noch wenigstens die Ärmel aufkrempeln wollten und sagten: Wir müssen doch etwas tun! Wir haben alles im Griff! Wir brauchen keine Hilfe! Sie sind längst nicht mehr mit von der Partie. Unter dem Kreuz findet sich jetzt nur noch die Gemeinschaft der Hilflosen. Diejenigen, die bereit sind, sich diese totale Hilfe Gottes gefallen zu lassen, diejenigen, die bereit sind, die Hände auszustrecken und zu sagen: «Herr, hilf!»
Es wird ihnen erst später, nach dem Ostermorgen, aufgehen, wie richtig ihr Standort war. Gemeinschaft, die sich unter dem Kreuz bildet, ist also zunächst die Gemeinschaft der Hilflosen.
Johannes überliefert die seltsamen Worte, die neue Gemeinschaft entstehen lässt und das an einem Ort, wo man alles andere erwarten würde, indem er zu seiner Mutter sagt: «Frau, siehe, das ist dein Sohn.» Und zu seinem Jünger: «Siehe, das ist deine Mutter.» Im gleichen Augenblick, wo alle natürlichen Beziehungen zerrissen werden, entsteht eine neue Gemeinschaft unter dem Kreuz, eine neue Verwandtschaft.
Alle, die unter diesem Kreuz stehen und die Vergebung annehmen, werden auf eine enge Weise miteinander verwandt. Sie schauen sich um und fragen: Was haben wir eigentlich gemeinsam? Die Haarfarbe, die Gesichtszüge, die politischen Ansichten, den Beruf? Da finden sie wenig Übereinstimmung. Aber das Wesentliche in ihrem Leben finden sie deckungsgleich: ihre Schuld und das Wunder der Vergebung.
Auf diese Weise schenkt Jesus vom Kreuz her eine neue Verwandtschaft, eine neue Familie. Diese kleine Szene ist von Johannes liebevoll berichtet. Inmitten des brutalen, lärmenden Geschehens der Kreuzigung, inmitten der Hasser, Zuschauer und Spötter, der Gleichgültigen und derer, die nachher sagen: «Wir? Wir waren es ja nicht!» Oder: «Wir haben es nur auf Befehl getan.» Oder: «Wir haben ja nur mal so zugeschaut.» Wo aber nicht Sünde beim Namen genannt wird, wo es keine Busse gibt, wo Menschen nicht der Vergebung ihrer Sünden gewiss werden, da entsteht auch nicht das Wunder dieser neuen Verwandtschaft.
Jesus lehrte seine Nachfolger, dass diese Vergebung nur empfangen werden kann, indem man sie zugleich weitergibt, an den, der an mir schuldig geworden ist. Und darin ist das Geheimnis dieser neuen Verwandtschaft begründet.
Wir wissen nicht, wie Johannes und Maria diesen Auftrag Jesu im Detail wahrgenommen haben. Aber es wird uns gesagt: Unter dem Kreuz Jesu bekommen Menschen eine neue Aufgabe. In der Hingabe Gottes an uns ist immer ein Auftrag eingeschlossen. Wir können seine Liebe nicht empfangen, ohne sie gleich an andere weiterzugeben. Unter dem Kreuz entsteht durch Christus eine neue Gemeinschaft, die eigene menschliche Vorlieben durchbricht. Und diese Gemeinschaft bekommt den Auftrag, die Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes in Wort und vor allem auch im Tun hinauszutragen.
So lädt uns Karfreitag heute ein, inmitten von Einschränkungen, Corona-Turbos und Corona-Leugnern, inmitten verschiedenster politischer und ethischer Ansichten, uns zu fragen, wo unter uns so neue Gemeinschaften entstehen kann, wo wir in unserem Leben aus der Vergebung und Liebe Gottes leben und so neue «Verwandtschaft» entstehen darf.
Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen Karfreitag.