Gedanken zu Pfingsten: Das Pfingstwunder des Verstehens

 Tobias Fluri, Pfarrer der reformierten Kirche Rothrist (zvg)
Tobias Fluri, Pfarrer der reformierten Kirche Rothrist (zvg)

Babylonische Sprachverwirrung in Reinkultur herrschte, als sich vor zirka 2000 Jahren verschiedene Menschen verschiedenster Sprachgruppen zu diesem altjüdischen Erntefest in Jerusalem einfanden.

Und was an diesem Pfingsttag geschah, ist gerade für uns aufgeklärte Menschen nur schwer zu verstehen: Ein Brausen vom Himmel her erfüllte das Haus, in dem sich die Menschen aufhielten. Feuer- und zungenähnliche Erscheinungen liessen sich auf einem jeden von ihnen nieder und sie gerieten in Ekstase und sie lobten und priesen Gott in den schönsten Tönen, berichtet uns die Apostelgeschichte im zweiten Kapitel.

«Es muss der süsse Wein sein», dachten die Juden von Jerusalem, die Zeugen dieser eigenartigen Szene wurden. Und man hörte sie sagen: «Wir hören sie in unsern Sprachen die grossen Taten Gottes verkünden.» Man verstand sich plötzlich, die Barrieren des Verstehens wurden aufgehoben. Der Heilige Geist erwies sich als glänzender Übersetzer. Und man gab zu Protokoll: «Alle aber waren ratlos und sprachen einer zu dem andern: Was will das werden?»

Szenenwechsel I: Was das werden will, fragte man sich auch zirka 2000 Jahre vorher, als die Menschen vor diesem gigantischen Bau in Babel standen. Verantwortlich zeichnete eine Gesellschaft, die sich durch einen gemeinsamen Kraftakt vor der Zerstreuung retten wollte. Das 1. Buch Mose lässt sie sagen: «Wohlauf, lasst uns eine Stadt und einen Turm bauen, dessen Spitze bis an den Himmel reiche, dass wir uns einen Namen machen; denn wir werden sonst zerstreut über die ganze Erde.»

Gott nahm Notiz vom Ansinnen seiner Menschen, fand aber keinen Gefallen daran. «Und der HERR sprach: Siehe, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle, und dies ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unmöglich sein, was sie zu tun ersinnen.»

Szenenwechsel II: Das Potential in Richtung unbegrenzter Möglichkeiten wird auch der Möglichkeitsmaschine Internet zugetraut. Ein Gebilde, das in seinem rasenden Eroberungsdrang auch vor dem Himmel nicht Halt macht. Es wurde deshalb auch schon als Turm zu Babel 2.0 bezeichnet. Wie ein Raster legt es sich über die Welt, trägt Distanzen ab und macht Menschen, die tausende Kilometer auseinander wohnen, zu Nachbarn.

Und doch: Gerade in letzter Zeit hat man den Eindruck, es gehe auf dieser Erde weniger nachbarschaftlich zu, als auch schon: Alte Konflikte brechen neu auf, Gräben werden aufgerissen, politische Entscheidungsträger verstehen sich nicht mehr. Gerät die Welt aus den Fugen?

«Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort über die ganze Erde, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen» (1. Mose 11,7). Die Sprache zersplitterte in eine Vielzahl unterschiedlichster Sprachen und Idiome und wurde über den ganzen Erdball verstreut.

Ein paar dieser zerstreuten Idiome sprachen die Menschen am Pfingstfest, wo das Wunder des Heiligen Geistes über sie kam, ein Wunder des Verstehens. Trotz aller Grenzen, trotz aller Distanzen und Dissonanzen untereinander, erkannte man im Anderen einen Nachbarn, einen Bruder, eine Schwester im Geist.

Das Verstehen des Anderen ist vielleicht weniger der Normalfall, als vielmehr die Ausnahme. Gerade dann, wenn andere Lebenseinstellungen und Lebensstile aufeinander treffen. Man hat immer wieder versucht, Sprach- und Kulturbarrieren, die voneinander trennen, aufzuheben. Die Türme von Babel und dem Silicon Valley scheinen davon zu zeugen. Aber ob diese eigenmächtigen Versuche die Welt zusammenzuhalten von Erfolg gekrönt sein werden, wird sich zeigen. Es stellt sich grundsätzlich die Frage: Sind wir Menschen aus eigenem Bemühen, gewissermassen von unten her, in der Lage, die Gräben des Verstehens nachhaltig zuzuschütten?

Klar ist aber, dass am Pfingstfest Menschen mit den verschiedensten Hintergründen und Sprachen gestern und heute zusammenfinden, um im gemeinsamen Ausdruck des Glaubens Gott zu loben. In diesem Lob Christi bekommen sie das Verstehensproblem sozusagen von oben her gelöst.

Mögen auch Sie Ihr Pfingstwunder erleben.