
Gemeinden sacken Pensionen ein um Sozialhilfeschulden zu tilgen – nun wächst der Widerstand
Der «Kassensturz» von SRF schilderte am Dienstag verschiedene Fälle. Neu ist das Problem nicht, bereits im Februar 2015 berichtete die Sendung darüber.
Im Kanton Zürich dürfen Gemeinden nicht verlangen, dass die Altersvorsorge zur Schuldentilgung beim Sozialamt verwendet wird. Und die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) nimmt diese Möglichkeit per Anfang nächstem Jahr aus ihren Richtlinien. Doch im Aargau ist die Praxis nach wie vor legal und die Gemeinden können sie anwenden.
EVP und SP planen politische Vorstösse
Die Frage ist, wie lange noch, denn Widerstand formiert sich. Nicht erst seit dem «Kassensturz»-Bericht ist das Vorgehen etwa der Aargauer EVP ein Dorn im Auge. «Die Skos will zum Glück klarere Vorgaben machen. Zudem ist es unfair, dass es davon abhängt, in welcher Gemeinde man wohnt, ob die Altersvorsorge zur Schuldentilgung gebraucht werden muss oder nicht», sagt Grossrätin Therese Dietiker. Die Fraktion arbeite an einem Vorstoss, demnächst will sie ihn einreichen. Ungerecht sei aber nicht nur das Fehlen einheitlicher Regelungen, sondern auch, dass es jene trifft, die überhaupt eine Pensionskasse haben. «Wer gearbeitet hat, muss dieses Geld der Gemeinde abgeben. Er hat damit gleich wenig, wie jemand, der nie gespart hat», zeigt Dietiker auf. Das sei entwürdigend
Auch die kantonale SP plant, gegen die Aargauer Praxis vorzugehen. In einer Mitteilung kritisiert die Partei diese als Zweckentfremdung von Pensionskassengeldern. Das Sozialhilfe- und Präventionsgesetz müsse klar regeln, dass Pensionskassengelder nicht zur Rückzahlung von Sozialhilfeschulden verwendet werden können, ein entsprechender Vorstoss werde an der nächsten Parlamentssitzung eingereicht. Weiter sei ein nationales Rahmengesetz nötig, das die Grundzüge der Sozialhilfe für alle Kantone regelt, sowie ein Verbot für diese «Zweckentfremdung» der Gelder.
Grüne werden beim Bund vorstellig
«Wenn es einen gemeinsamen Vorstoss gibt, schliessen wir uns an», kündet Grünen-Präsident Daniel Hölzle an. Nationalrätin Irène Kälin wird dafür zudem demnächst beim Bund vorstellig. «Es ist unglaublich, wie man dazu kommen kann, die eigene Gemeindekasse aufzubessern auf dem Buckel der bereits Ärmsten», sagt Kälin. Vorsorgegelder hätten die Aufgabe, Menschen im Alter ein würdiges Leben zu ermöglichen und Ziel der Sozialhilfe sei es, Menschen wieder in die Unabhängigkeit zu führen. Es gehe also weder aus Sicht der Sozialhilfe noch der Altersvorsorge an, dass Gemeinden ihre Sozialausgaben mit Pensionskassengeldern «senken». «Ich gehe deshalb davon aus, dass diese Praxis gesetzeswidrig ist», so Kälin. Sie werde beim Bundesrat nachfragen; auch, ob er den Kanton Aargau allenfalls zwingen könne, ein generelles Verbot zu erlassen.
Konkret erhofft sich die Grüne eine Stellungnahme des Bundesamts für Sozialversicherung. «Immerhin schröpft der Kanton Aargau so die AHV, die ja dann in die Bresche springen muss.» Kälin behält sich zudem vor, je nach Antwort des Bundesrats eine Motion einzureichen.
FDP-Grossrat verteidigt Praxis im Einzelfall
Adrian Schoop, Gemeindeammann von Turgi und FDP-Grossrat, möchte die Regelung beibehalten. Er schildert einen Fall aus seiner Gemeinde: Eine Person habe sich Pensionskassengelder auszahlen und diese an Verwandte im In- und Ausland überweisen lassen, trotz Sozialhilfe-Schulden. «Gemeinden brauchen Ermessensspielraum um solche Vorfälle einzuschätzen und zu verhindern», so Schoop. Auch er sei dagegen, dass Frühpensionierte ihr gesamtes Pensionskassengeld zur Schuldentilgung aufwenden müssen, aber: «Mindestens zusammen sitzen, ausmachen, dass ein Teil bezahlt wird und in welchem Zeitraum, muss möglich bleiben.»
Schoop wehrt sich dagegen, dass Gemeinden unter Druck gesetzt werden. Es gehe nicht darum, Armutsbetroffenen ihr Geld abzuknöpfen, sondern darum, dass Sozialhilfe zurückbezahlt werden müsse. «Jeder Fall muss einzeln betrachtet werden», findet Schoop deshalb.
Im letzten Jahr scheiterte der FDP-Grossrat aus Turgi mit einem Vorstoss, der verlangte, dass die Sozialhilfegesetzgebung so ergänzt wird, dass Gemeinden rechtzeitig von Erbschaften, Schenkungen und Freizügigkeitsleistungen an ehemalige Sozialhilfebezüger erfahren. Das sei Sache des Bundes, hiess es.