
Grosse Vorbereitungen für vierte Welle – doch Pläne des Bundesrats könnten Skeptiker und Gegner anstacheln
Schnell! Kein anderes Adjektiv hat Gesundheitsminister Alain Berset an der Medienkonferenz mehr gebraucht:
«Die Situation ist unter Kontrolle, doch das kann sich sehr schnell ändern.»
Deshalb schickt der Bundesrat vorsorglich neue Massnahmen in die Konsultation. Wie schnell sich die Situation ändern kann, musste auch Berset selbst schmerzhaft erfahren. Vor etwas mehr als zwei Wochen gab er der «Sonntags-Zeitung» ein Interview. In Erinnerung geblieben ist das Foto eines entspannten und fröhlichen Gesundheitsministers auf der Terrasse eines Hotels in Locarno. Und zwei Sätze. Erstens: «Wenn es gut läuft, sind in wenigen Wochen weitere Lockerungen möglich.» Zweitens: «Die Diskussion um die Ausweitung der Zertifikatspflicht auf Restaurants und Fitnesscenter ist ‹bizarr›».
Dieses «bizarr» fliegt Berset nun um die Ohren. Denn genau diese Massnahme schickt der Bundesrat nun in die Konsultation bei den Kantonen. Vorsorglich, wie der SP-Magistrat sagte. «Wir wissen nicht, ob dieser Schritt nötig sein wird, aber wir wollen bereit sein.»
Mit einer allfälligen Ausweitung der Zertifikatspflicht will der Bundesrat eine Überlastung der Spitäler verhindern. Wann genau die Massnahme ergriffen würde, wollte Berset nicht sagen. Es gebe keinen exakten Schwellenwert, entscheidend sei die Dynamik. Also wie schnell sich das Virus verbreitet und die Zahl der Hospitalisationen zunimmt.
In den letzten Wochen nahm die Zahl der Spitaleinweisungen von Covid-Patienten stark zu. Gründe dafür sind die relativ tiefe Durchimpfungsrate – nur 56 Prozent der Bevölkerung sind mindestens einmal geimpft – aber auch die Ferienrückkehrer und die verschiedenen Lockerungsschritte. Aktuell liegt der 7-Tage-Durchschnitt bei knapp 60 Spitaleinweisungen täglich. In der zweiten Welle lag der Spitzenwert bei knapp 250. Setzt sich der aktuelle Trend fort, würde der 7-Tage-Durchschnitt Ende Monat bereits bei 200 Hospitalisierungen pro Tag liegen.Das Covid-Zertifikat zeigt, ob jemand geimpft, genesen oder negativ getestet ist. Geht es nach dem Bundesrat, könnte es schon bald an folgenden Orten eingesetzt werden, um härtere Massnahmen wie Schliessungen ganzer Branchen zu verhindern:
- Schon heute gilt die Zertifikatspflicht in Discos und Clubs, neu soll sie auch für Bars und Restaurants gelten; aber nur in Innenräumen.
- Für Veranstaltungen in Innenräumen wie Konzerte, Theater, Kino oder Sportveranstaltungen soll ebenfalls ein Zertifikat nötig werden. Auch private Anlässe wie Hochzeiten oder Geburtstage, die in Restaurants gefeiert werden, sind davon betroffen. Ausgenommen werden sollen religiöse Veranstaltungen, Beerdigungen oder politische Veranstaltungen bis maximal 30 Personen.
- Der Zugang zu Freizeiteinrichtungen wie Museen, Zoos, Fitnesscenter, Hallenbäder oder Kletterhallen soll beschränkt werden.
- Sporttrainings oder Musik- und Theaterproben wären ebenfalls betroffen. Ausser die Aktivitäten finden immer mehr oder weniger in der gleichen Zusammensetzung statt und mit weniger als 30 Personen.
- Schliesslich will der Bundesrat auch festschreiben, dass das Zertifikat auch im Arbeitsbereich eingesetzt werden kann. Keine Regelung erlassen will er aber für Universitäten. Denn die Bearbeitung der Gesundheitsdaten der Studierenden müsse sich auf eine hinreichende kantonalgesetzliche Grundlage stützen.
Pläne könnten Skeptiker und Gegner anstacheln
Über dem Impfzertifikat schwebt das Damoklesschwert eines Volksentscheids. Im November wird erneut über das Covid-19-Gesetz abgestimmt – und damit über die Grundlage des Zertifikats. Oder wie Berset unmissverständlich erklärte: «Wenn das Covid-Zertifikat an der Urne scheitert, dann ist es Geschichte.»
Erst am Wochenende hatte die SVP die Nein-Parole dazu beschlossen. Die Nervosität in den Stäben der Bundesräte ist seit Wochen gross. Nun dürfte der jüngste Entscheid des Bundesrats die Massnahmenskeptiker und Impfgegner weiter anstacheln. Die Ausweitung des Zertifikats drohe, die Gesellschaft zu spalten, mahnt etwa Gastrosuisse-Chef Casimir Platzer:
Wie angespannt die Lage ist, spiegelt sich in den Berner Sicherheitsdispositiven. So auch während Bersets Auftritt im Mediencenter des Bundeshauses. Unterdessen ist es üblich, dass Polizistinnen und Polizisten in der Bundesgasse und auf den Plätzen rundherum patrouillieren. Beamte der Bundespolizei sitzen in schwarzen Autos mit getönten Scheiben oder stehen in den Verwaltungsgebäuden hinter Fenstern, um die Lage zu beobachten. Allzeit bereit, um bei spontanen Protestaktionen oder Störmanövern einzugreifen.
Berset ist sich wohl bewusst, dass die Situation angespannt ist. Er fragte mehrmals rhetorisch, was denn die Alternative zum Zertifikat sei. «Der Bundesrat versucht, Lösungen zu bringen», sagte er an die Adresse seiner Kritiker. Andere Massnahmen wie Schliessungen wären viel einschneidender als die Ausweitung der Zertifikatspflicht.
Die SVP übte viel Kritik, wie auch Gastropräsident Platzer. Keiner der Ungeimpften werde nun zum Piks schreiten, weil er einen Kaffee im Restaurant trinken wolle, sagte er vor den Medien.
«Der Bundesrat spaltet mit seiner Strategie die Bevölkerung und nimmt grosse gesellschaftliche Brüche in Kauf.»
Zudem bezweifelt Platzer die praktische Umsetzbarkeit einer Zertifikatspflicht. «Manche Restaurants haben drei Türen, wo die Leute einfach rein- und rauslaufen. Soll da jedes Mal jemand hinstehen und den QR-Code ablesen und mit einer ID abgleichen? Sollen die Wirte Kontrollen durchführen und Bussen verteilen?»
Allerdings erhielten die Pläne des Bundesrats auch viel Wohlwollen von den meisten Parteien, von FDP bis zu den Grünen. Auch der Arbeitgeber- sowie der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse betrachten eine Zertifikatspflicht «als geeignetes Mittel, um die Pandemie im Zaum zu halten.»