
Grüne Regierungs-Kandidatin Guyer: «Der Klimawandel ist wie die Coronakrise – Realität, nur schleichend»
Persönlich
Christiane Guyer (Grüne) ist 1963 geboren und Mutter von fünf Kindern im Alter zwischen 14 und 28 Jahren. Sie ist seit 2010 Stadträtin von Zofingen und steht dem Ressort Sicherheit und Kultur vor, von 1988 bis 2001 war sie Mitglied des Einwohnerrates in Zofingen und 1989 bis 1992 Mitglied des Aargauer Grossen Rats. Die studierte Biologin ist stellvertretende Leiterin (derzeit Leiterin a.i.) der Dienststelle Landwirtschaft und Wald des Kantons Luzern mit über 90 Mitarbeitenden.
Am 14. Mai haben die Grünen Aargau Christiane Guyer einstimmig als Kandidatin für die Regierungsratswahlen vom 18. Oktober nominiert. (eva)
Christiane Guyer hat für das Gespräch mit der AZ den Obstsortengarten am Waldrand von Zofingen gewählt. Der Schatten der Hochstamm-Obstbäume ist willkommen an diesem warmen Tag im Juni. Aber der Ort hat für die Stadträtin vor allem auch symbolischen Wert: Wie die alten, knorrigen Bäume ist sie in Zofingen zwar verwurzelt, sie hat von hier oben aber auch den Weitblick über die Stadt hinaus in den Kanton, den sie als Regierungsrätin in Zukunft mitgestalten möchte. Warum sie das tun will, hat sie uns auf der Wiese erzählt.
Frau Guyer, der Lockdown ist vorbei. Haben Sie ihn gut überstanden?
Cistiane Guyer: Ja. Das Familienleben war bereichernd, unsere fünf Kinder waren mehrheitlich daheim, wir haben zusammen gekocht, gegessen, gejasst – persönlich habe ich den Lockdown also ähnlich erlebt wie viele andere Menschen auch. Im Beruf war es eine Herausforderung, von einem Tag auf den anderen mit 90 Personen auf Homeoffice umzuschalten. Das hat viel Organisation und Engagement erfordert, aber auch das hat gut geklappt. Ich selber habe dabei ebenfalls viel von zuhause aus gearbeitet.
Bald sind auch die Grenzen wieder offen. Verreisen Sie in den Sommerferien?
Ja, aber nicht ins Ausland, sondern ins Puschlav.
Während des Lockdowns wurden Sie von Ihrer Partei als Kandidatin für den Regierungsrat nominiert – und zwar online. Wie haben Sie das erlebt?
Das war eine sehr gute Erfahrung. Grüne können kommunizieren – real oder online. Die Sitzung war sehr gut organisiert, und die Mitglieder hielten engagierte Voten. Es gehört zu Tradition der Grünen, dass die Basis die Kandidierenden bestimmt, und das ist uns gelungen.
Warum sollen die Grünen überhaupt in den Regierungsrat?
Wir sind die fünftstärkste Partei im Kanton, national gleich stark wie die FDP und CVP. Wir vertreten Themen, die ein grosser Teil der Bevölkerung beschäftigt, die sich Sorgen um die Umwelt und den Zusammenhalt der Gesellschaft macht und die vorhandenen Lösungen auch im Aargau umsetzen will.
Sicher frei wird aber nur der Sitz von Urs Hofmann, und den will die SP mit Dieter Egli verteidigen. Bekämpfen Sie die Schwestern-Partei der Grünen?
Nein. Der gesamte Regierungsrat wird gewählt. Auf jedem Stimmzettel können fünf Linien ausgefüllt werden. Alle haben die Möglichkeit, die Persönlichkeiten und Parteien zu kombinieren, die ihnen passen. Ich freue mich, wenn die Wählerinnen und Wähler meinen Namen auf eine der fünf Linien schreiben.
Werden Sie mit SP-Kandidat Dieter Egli zusammen in den Wahlkampf steigen?
Entsprechende Gespräche haben bisher nicht stattgefunden, das kann sich noch ergeben. Sicher ist aber: Ich gehe mit den Frauen in den Wahlkampf.
Sollen die Aargauerinnen und Aargauer Sie also wählen, weil Sie eine Frau sind?
Die Hälfte der Aargauer Bevölkerung ist jetzt im Regierungsrat nicht vertreten. Als Frau bringe ich die Perspektive und die Erfahrungen von Frauen ein, das ist ein sehr zentrales Anliegen von mir, aber nicht das einzige. Als Grüne vertrete ich die ökologischen und sozialen Themen und als Zofingerin den Westaargau. Wichtig ist, dass die Regierung ein gutes Team bildet, und Frauen gehören nun mal dazu und tragen zum Erfolg unseres Kantons bei.
Hauptsächlich weil Sie eine Frau sind, ist Ihnen die Unterstützung der GLP sicher, das hat die Partei vor wenigen Tagen beschlossen. Passt das zu Ihnen? Die GLP ist schliesslich insbesondere im Aargau klar stärker an der Mitte als an links orientiert…
Mir geht es nicht so sehr um die Parteien und ihre Grabenkämpfe. Diese spielen in einem Exekutiv-Kollegium nicht die grösste Rolle. Ich will die Themen einbringen, die bisher zu wenig Gewicht haben.
Damit müssten Sie sicher hie und da Kompromisse eingehen. Schliesslich sind die Bisherigen, die wieder antreten, alles bürgerliche Männer, und keiner kommt aus dem Westen.
Ich habe in den letzten zehn Jahren in der Zofinger Stadtregierung bewiesen, dass ich dazu sehr wohl fähig bin. Wobei mir der Begriff Kompromiss nicht gefällt. Ich möchte Lösungen finden, die für alle stimmen und ohne den negativen Beigeschmack eines Kompromisses auskommen. Dazu muss man zuhören können, Anliegen verstehen, verhandeln und auf gleicher Ebene zusammenarbeiten. Das kann ich.
Durchsetzen sollte sich ein Regierungsmitglied aber. Können Sie das auch?
Ich leite zurzeit beruflich eine Dienststelle mit über 90 Personen, in der Zofinger Stadtregierung mehrere Bereiche, und ich kann mich dort sehr wohl durchsetzen. Gute Führung heisst aber vor allem, gemeinsam Ziele definieren und verfolgen, klare Vorgaben zu machen und für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen.
Die Themen der Grünen und der Frauen waren vor den nationalen Wahlen im letzten Jahr in Mode, als die Klimajugend und die Frauen auf die Strasse gingen. Jetzt ist die Coronakrise das vorherrschende Problem. Sind grüne Anliegen momentan überhaupt so wichtig?
Ich habe grosses Verständnis dafür, dass die Bevölkerung sich jetzt um unsere wirtschaftliche Situation sorgt. Die Ängste müssen ernst genommen werden, damit der Neustart nach der Krise gelingt. Das bedeutet für mich auch, Chancen zu erkennen und wahrzunehmen. Dass es auch mit weniger Reisen und damit weniger CO2-Ausstoss geht, haben wir in den letzten Monaten beispielsweise bewiesen.
Aber wer jetzt arbeitslos wird, sein Geschäft aufgeben muss oder durch Kurzarbeit ein deutlich geringeres Einkommen hat, würde sich über CO2- oder Flugticketabgaben sicher nicht freuen. Sollte man das nicht auch ernst nehmen?
Doch. Aber dieses Denken ist kurzfristig. Der Klimawandel ist wie die Coronakrise: Realität – nur geschieht er schleichend. Unternehmen wir nicht jetzt etwas dagegen, kommt er uns zwangsläufig sehr teuer zu stehen. Und er ist aktuell, auch wenn wir derzeit noch eine weitere Krise haben. Die Abwendung des Klimawandels ist nach wie vor notwendig. Wie müssen jetzt tun, was zu tun ist. Auch im Aargau.
Und wie soll der Kanton aus der Coronakrise finden?
Wichtig ist, dass das auszuschüttende Geld an den richtigen Ort kommt, die kleinen und mittleren Betriebe müssen unterstützt werden. Zudem müssen Innovationsprogramme, wie etwa für die Gebäudesanierungen, vorangetrieben werden. Und sehr zentral wird sein, dass die Arbeit jener, die gerade durch Corona gefordert waren, endlich angemessen honoriert wird. Im Gesundheitswesen gibt es diesbezüglich noch viel zu tun.
Ist der Aargau überhaupt Grünen-freundlich? Hier befindet sich alles, was Sie ablehnen: AKWs und Autobahnen, und die mit Abstand grösste Partei ist seit Jahren die SVP.
Der Aargau bietet doch viel mehr als Autobahnen und AKWs! Das Paul-Scherrer-Institut ist führend in alternativen Energien. Mit dem FiBL befindet sich das weltgrösste Forschungsinstitut für den Biolandbau in Frick, und unser Kanton hat als einer der wenigen einen «Aktionsplan Bio». Die Umweltarena steht in Spreitenbach. Unser Auenschutzpark macht ein Prozent der Kantonsfläche aus. Die Regionen sind unterschiedlich, mit schönen Landschaften vom Rhein übers Fricktal bis zum Hallwilersee und von Baden bis Zofingen. Es ist ein interessanter Kanton und die Grünen braucht es hier ebenso wie überall. Und auch genau so wie Menschen mit anderer Meinung.
Aber bei den jetzigen Mehrheitsverhältnissen gleichen die Bemühungen der Grünen häufig einem Kampf gegen Windmühlen.
Wir erreichen viel, häufig muss man einfach klein anfangen. So habe ich vor langer Zeit mitgeholfen, die erste Kindertagesstätte in Zofingen auf die Beine zu stellen. Heute sind sie eine Selbstverständlichkeit. So läuft Politik häufig, es sind nicht nur die ganz grossen Ereignisse oder Sachabstimmungen, mit denen man etwas bewegen kann.
Haben Sie ein Wunschdepartement im Regierungsrat?
Ich kann mir grundsätzlich jedes Departement vorstellen; Führung funktioniert überall ähnlich. In Zofingen betreue ich seit zehn Jahren das Ressort Sicherheit und Kultur. Als Biologin passt auch das Bau- und Umweltdepartement zu mir, und als fünffache Mutter kenne ich mich in der Bildung aus und weiss um die Baustellen in der Kinderbetreuung.
Ihr jüngstes Kind ist 14 Jahre alt, der älteste Sohn 28. Wie bringen Sie Familie, Politik und Beruf unter einen Hut?
Das ist mein Lebensmodell, ich will es so. Es war klar, dass ich als Mutter berufstätig bleiben werde, natürlich nur, solange die Kinder gesund sind und es der Familie zumutbar ist. Mein Mann konnte sein Pensum reduzieren, darum haben wir vieles geteilt. Tatsächlich bin ich aber nach drei Jahren aus dem Grossen Rat ausgetreten, als ich das erste Kind erwartete. Die Dreifach-Belastung hielt ich für unrealistisch. Aber ich habe mich immer bei der Familie vom Beruf erholt und bei der Arbeit von der Familie. Ich stehe mit beiden Füssen auf dem Boden und weiss, was es an familienergänzender Kinderbetreuung braucht, damit mehr Frauen ihren Beruf trotz Mutterschaft weiter ausüben können.
Sie sprechen es an, im Grossen Rat sassen Sie während dreier Jahre, und das ist eine Weile her. Sind Sie genügend bekannt, um in ein Regierungsamt gewählt zu werden?
Ich bin in Zofingen sicher bekannter als im Rest des Aargaus. Daran werde ich arbeiten. Ich habe die Voraussetzungen, um Regierungsrätin zu werden: Seit 20 Jahren arbeite ich auf der Luzerner Kantonsverwaltung und bin derzeit Leiterin ad interim der Dienststelle Landwirtschaft und Wald, dabei arbeite ich sehr eng mit der Regierung zusammen. Ich weiss bestens, wie eine Verwaltung funktioniert. Die langjährige Exekutiverfahrung habe ich aus dem Stadtrat Zofingen und einen entsprechenden Leistungsausweis. Ich danke den Aargauer Medien, dass sie mir im Wahlkampf eine Plattform geben, damit mich mehr Leute kennen lernen und entscheiden können, ob ich für sie die geeignete Person für die Regierung bin.
Und warum wollen Sie eigentlich persönlich in den Regierungsrat?
Ich bin zufrieden mit meinem Leben. Ich habe die Politik, einen interessanten Beruf, in dem ich erfolgreich bin, und meine grosse, tolle Familie. Es geht nicht in erste Linie um mich persönlich. Es geht um die Anliegen: Ich möchte die Anliegen der Frauen, der Nachhaltigkeit und des Westaargaus in die Regierung einbringen. Mit meinem Erfahrungsschatz will ich als Regierungsrätin das Notwendige tun. Das ist meine Motivation.
Geht es also doch um die Partei?
Nein, es geht um Haltungen wie Fairness, Sorgfalt im Umgang mit Mensch und Umwelt, Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Ich habe 1987 zum ersten Mal für die Partei für den Nationalrat kandidiert, bin also fast so lange bei den Grünen, wie es die Partei gibt. Seither haben sich meine Einstellungen nie grundsätzlich verändert. Darum mache ich diese Politik für eine lebenswerte Zukunft, nicht weil ich eine Parteisoldatin bin.
Sind Sie eine Wassermelone, also grün mit einem sozialen Kern? Oder eher eine Gurke, die grundsätzlich die Ökologie vertritt und darum aussen wie innen grün ist?
Weder noch. Aber mir gefällt das Bild der Artischocke.
Das müssen Sie erklären.
Die Artischocke ist grün, und ihre wunderschöne Blüte kommt nach und nach violett heraus – das ist die Farbe der Frauenbewegung.