«Grundrechtswidrig, unhaltbar, absurd»: Mitte-Schwergewicht Beat Rieder kritisiert Zertifikatspflicht scharf

Die Skepsis gegenüber der Zertifikatspflicht kommt längst nicht mehr nur von der SVP, von Impfgegnern oder von Coronaleugnern. Auch Mitte-Politiker Beat Rieder, Präsident der Kommission für Rechtsfragen des Ständerats, kritisiert den Impfpass scharf. Er bezeichnet ihn als grundrechtswidrig, unhaltbar und als «Missgriff».

Vor allem zwei Aspekte sind dem Walliser, der im Parlament als verfassungstreu gilt, ein Dorn im Auge. Erstens, dass die Gratistests nicht mehr kostenlos sind und zweitens, dass Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber von den Mitarbeitenden ein Zertifikat verlangen können. Wie konnte es so weit kommen? Rieder hat eine Erklärung: «Verschiedene Aspekte dieser Gesetzgebung wurden überstürzt und ohne vertiefte Debatte in der gleichen Kommission behandelt», sagt er.

«Ein Instrument zur Kontrolle der Bevölkerung»

Ein gravierender Fehler sei die Verschmelzung unterschiedlicher Themen gewesen, denn so habe die Gesundheitskommission auch über wirtschaftliche, rechtliche und bildungspolitische Massnahmen entschieden, ohne dass diese in ihre Kompetenzbereiche gehörten. Auch im Ständerat sei die Zertifikatspflicht eher rudimentär abgehandelt worden, die Aspekte rund um die Reisemöglichkeiten hätten mehr Gewicht gehabt als zum Beispiel die Diskussion darüber, dass die Zertifikatspflicht «ein flächendeckendes Instrument zur Kontrolle der Bevölkerung und damit zu Grundrechtseingriffen» führe.

Für Rieder macht die Zertifikatspflicht nur Sinn, wenn sie nichtdiskriminierend und nicht-spaltend wirke. Viele wollten oder könnten sich aus verschiedenen Gründen nicht impfen; diese Menschen dürfe man nicht aus alltäglichen Bereichen des Lebens ausschliessen. Nicht alle verfügten über die finanziellen Ressourcen, um sich die Tests zu leisten: «Es gibt Leute, die dieses Budget nicht haben.» Deshalb seien diese Massnahmen «unhaltbar und grundrechtswidrig». Denn: Grundrechte dienen nicht dem Staat, sondern dem Schutz jedes Einzelnen gegen Übergriffe des Staates. Und weiter:

«Wir befinden uns seit Ausbruch der Krise auf einer schiefen Ebene und bewegen uns eigentlich immer mehr in Richtung der Verletzung elementarster Grundrechte in der Schweiz.»

Der Verfassungsrechtsprofessor Urs Saxer hatte in dieser Zeitung gesagt, dass Grundrechte nicht uneingeschränkt gelten und es auch eine Frage der Praktikabilität sei, um aus der Pandemie zu kommen. Darauf erwidert Rieder: «Mit dieser Argumentation könne man die Ausübung jedes Grundrechtes einschränken und den Grundrechtsgedanken ad absurdum führen.» Praktikabilitätsaspekte dürften nicht zur unverhältnismässigen Einschränkung von Grundrechten führen.

Für Rieder ist das Covid-Zertifikat «ein Kontrollsystem, welches offensichtlich geeignet ist, die Bevölkerung in der Schweiz zu spalten, und welches in Teilen der Bevölkerung für enorme Beunruhigung sorgt». Man sei auf dem besten Weg, wegen der Pandemie «unantastbare Grundsätze unserer freiheitlichen Gesellschaft über den Haufen zu werfen» und Grundfreiheiten nach dem Vorbild totalitärer Staaten einzuschränken und auszuhebeln. «Die Signale, die wir aussenden, sind bedenklich», so Rieder.

Zu möglichst milden Massnahmen verpflichtet

Was tun, wenn die Fallzahlen und Hospitalisationen im Winter wieder steigen? «Je höher die Zahlen, desto emotionaler wird die Debatte», sagt Rieder. Man müsse die Pandemie so bekämpfen, ohne die Grundrechte von Bevölkerungsgruppen zu beschneiden. So etwa habe er auch keine Parlamentsbeschlüsse gesehen, welche zum Beispiel zur Stärkung des Gesundheitssystems und der Intensivpflegestationen in den Spitälern führen könnten. Das Verhältnismässigkeitsgebot verpflichte aber Regierung und Parlament, alles zu unternehmen, um möglichst mildeste Massnahmen zur Bekämpfung der Pandemie zu beschliessen. Er appelliere daher an mehr gegenseitige Toleranz und Respekt.