
Gymnasiasten leiden unter Schlafmangel: Jetzt soll der Unterricht später beginnen
Seit Monaten zerbrechen sich einige der wichtigsten Bildungsvertreter des Landes den Kopf darüber, was Schweizer Maturanden künftig können müssen. Bund und Erziehungsdirektoren haben mit ihrer «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» eine Reform angestossen, die das Gymnasium verändern wird. Neben dem Lehrplan und den einzelnen Fächern geht es auch darum, welche Faktoren den Lernerfolg der Schüler beeinflussen. Dabei entzündet sich nun wieder eine alte Debatte: Wie stark wirkt der Unterrichtsbeginn auf die Leistung der Jugendlichen?
Eltern, Lehrer und Bildungsexperten streiten seit Jahren darüber, wann die Lektionen angesetzt werden sollen. Der Unterricht am frühen Morgen ist für viele Jugendliche Folter. Kaum in der Pubertät, mogeln sie sich jeden Tag durch die erste Schulstunde. Die Augen sind zwar geöffnet, doch aufnehmen können sie nichts. Ihre innere Uhr lässt es nicht zu.
Drei von vier Jugendlichen schlafen zu wenig
Für Hartmann ist deshalb klar: «Wir sollten über einen späteren Unterrichtsbeginn diskutieren und die wissenschaftlichen Erkenntnisse einfliessen lassen.» In den vergangenen Jahren haben zahlreiche Studien belegt, dass Kinder erfolgreicher lernen und ausgeglichener sind, wenn die Schule später beginnt. Zudem greifen Jugendliche weniger oft zu Nikotin, Koffein und Energydrinks.
Schon eine kleine Verschiebung des Unterrichtsbeginns mache einen Unterschied, sagen Schlafforscher. Einige Ergebnisse sind alarmierend: Bereits 2016 stellte der Jugendgesundheitsbericht der Stadt Bern massive Schlafdefizite fest. Er zeigte, dass drei von vier Jugendlichen nicht genug schlafen.
Soll die Schule erst um 8 Uhr beginnen?
Auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler, hat sich mit den Ergebnissen der Studie auseinandergesetzt. «Es ist erwiesen, dass viele Jugendliche Probleme in der ersten Stunde haben.» Allerdings gelte es zu beachten, dass der Übergang ins Berufsleben später ohne Probleme funktionieren müsse. Einen Unterrichtsbeginn um 8 Uhr sieht sie deshalb als möglichen Kompromiss. Zurzeit herrschen wegen des föderalen Schulsystems in den Kantonen und Gemeinden grosse Unterschiede. Die meisten starten zwischen 7:30 Uhr und 8:15 Uhr.
Einige Schulen haben bereits versucht, den Erkenntnissen aus der Schlafforschung Rechnung zu tragen. So verschob eine Kantonsschule in St. Gallen den Start von 7.35 Uhr auf 7.55 Uhr. Allerdings sorgten die dadurch entstehenden kürzeren Pausen und ein länger Schultag für Unmut – auch bei den Schülern. Der Kanton Bern wiederum setzte das Konzept an zehn Schulen um, auch damit der öffentliche Verkehr entlastet wird. Doch in Bern blieb es ebenfalls ein Problem, alle Lektionen in den Tag zu packen, wenn der Unterricht später beginnt.
Tatsächlich ist die Unterrichtszeit an Schweizer Gymnasien im internationalen Vergleich überdurchschnittlich hoch, wie Zahlen des europäischen Bildungsinformationsnetzwerks Eurydice belegen. Während deutsche und französische Gymnasiasten wöchentlich 27 bis 32 Lektionen besuchen, sind es in der Schweiz zwischen 36 und 38. Das geht nur, wenn man früh beginnt – oder grundlegen etwas ändert. Das könnte nun mit der Reform gelingen. In den Gymnasien müsse zu viel Stoff in zu wenig Zeit unterrichtet werden, sagt Gymnasiallehrer Hartmann. Er sieht deshalb zwei Möglichkeiten. Entweder müsse die Gymizeit verlängert werden oder der Inhalt reduziert werden. «Dann wäre es auch möglich, mit dem Unterricht später zu beginnen.»
Ein «Wundermittel» für alle Schüler
Das Thema ist nicht nur in der Schweiz ein Dauerbrenner. Andere Länder wie England, Schweden, aber auch Japan berücksichtigen die Ergebnisse der Schlafforschung stärker. Dort beginnt die erste Lektion oft erst um 9 Uhr. Auch die USA ziehen nach: Vor wenigen Wochen hat der Bundesstaat Kalifornien per Gesetz festgelegt, dass der Unterricht in den höheren Klassen nicht vor 8:30 Uhr beginnen darf. «Alle suchen nach einem schulischen Wundermittel, dass Schülerinnen und Schüler gleichermassen – über Alter, Ethnie und Intelligenz hinweg – nützt und die Leistung verbessert. Und das, ohne Geld zu kosten», sagt der Senator, der das Gesetz mitverfasst hat. «Jetzt haben wir das Wundermittel.»
Hintergrund der Verschiebung: Wenn man etwas Neues lernt und danach gut schläft, kann man diese Dinge am nächsten Tag und auch später besser abrufen. Das Wissen wird während man schläft vom Kurzzeitgedächtnis ins Langzeitgedächtnis verschoben. Doch das gelingt nicht immer.
Einfache Rezepte, wie Jugendliche früher ins Bett zu schicken, funktionieren nur bedingt. Einen starken Einfluss hat der Chronotyp jedes Menschen. Dabei gibt es Eulen und Lerchen. Kinder wollen meist früh aufstehen, sie gehören zu den Lerchen. Kaum in der Pubertät, verschiebt sich der Rhythmus allerdings in den meisten Fällen nach hinten: Jugendliche sind morgens oft müde und abends wach (Eulen).
Ursache ist das Wachhormon Serotonin, das Teenager stärker am Abend ausschütten. Die Folge: Auch wer früh ins Bett geht, kann nicht schlafen – und der Morgen bleibt eine Qual. Schlafforscher ziehen gerne einen Vergleich: «Jugendliche, die um 6 Uhr aufstehen müssen, sind das Äquivalent eines Erwachsenen, der um 4 Uhr früh aus dem Bett geholt wird.“«An erfolgreiches Lernen ist dann nicht zu denken. Oder um ein Bonmot von Altbundesrat Willi Ritschard zu bemühen: «Die Schweizer stehen zwar früh auf, aber sie erwachen spät.» In der Schule wäre es besser, beides zeitgleich zu tun.