Harter Haftalltag: Gewalt in Schweizer Gefängnissen nimmt zu

Der Gefängnisalltag in der Schweiz wird rauer. Neben dem Extremfall «Carlos» gibt es eine steigende Zahl kleiner Fälle, die zu Strafanzeigen wegen Delikten in Gefängnissen führen. Diese dringen normalerweise nicht nach aussen. Das aktuelle Ausmass zeigt nun eine neue Auswertung der Kriminalstatistik auf. Das Bundesamt für Statistik hat auf Anfrage dieser Zeitung jene Strafanzeigen aus der Datenbank gefiltert, die von der Polizei mit Tatort Gefängnis erfasst worden sind. Das Gefängnispersonal sorgte also wegen der Schwere der Vorfälle nicht mit einem Disziplinarverfahren für Ordnung, zum Beispiel mit einer Versetzung in die Arrestzelle, sondern schaltete die Polizei ein.

Die Zahlen deuten darauf hin, dass die Kriminalität hinter Gittern zunimmt. 2009 wurden erst 341 Straftaten in Justizvollzugsanstalten registriert. 2018 waren es 566. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Statistik und entspricht einem Anstieg von 66 Prozent. Ausserhalb der Gefängnisse ist es im gleichen Zeitraum hingegen friedlicher geworden. Die Zahl der angezeigten Straftaten sank schweizweit um 22 Prozent.

Für den grössten Anstieg sorgt ein einzelnes Delikt: Gewalt und Drohung gegen Beamte. Es geht dabei um Fälle, in denen sich Gefängnisaufseher von Insassen bedroht gefühlt haben oder verletzt wurden. Diese Zahl hat sich in zehn ­Jahren fast verdreifacht. Auch ausserhalb der Gefängnisse haben diese ­Anzeigen zugenommen, aber weniger stark.

Vier Fälle von versuchter Tötung in Gefängnissen

Generell haben die Aggressionen in Haftanstalten zugenommen. Die Zahl der Gewaltdelikte hat sich in zehn Jahren verdoppelt. Meistens handelt es sich um leichte Fälle: Körperverletzungen und Tätlichkeiten. Das können Insassen sein, die sich gegenseitig verprügeln oder auf Aufseher losgehen. Dabei gibt es Häftlinge, die härter zuschlagen als Brian K. alias Carlos. Das schwerste Delikt, das dieser im Gefängnis begangen haben soll, stuft die Staatsanwaltschaft als versuchte schwere Körperverletzung ein. Schweizweit sind im vergangenen Jahr aber auch vier Fälle von versuchter Tötung in Gefängnissen angezeigt worden. Welche Geschichten sich hinter diesen Zahlen verbergen, ist nicht bekannt. Einen positiven Trend gibt es ­allerdings auch: Die Zahl der angezeigten Sachbeschädigungen, die den grös­s­­ten Anteil der Vermögensdelikte ausmachen, ist leicht zurückgegangen. Das bedeutet zum Beispiel, dass ­weniger Insassen in ihrer Zelle randaliert haben.

Die Frage lautet: Weshalb wird mehr Gewalt in Gefängnissen registriert? Eine klare Antwort liegt derzeit nicht vor, aber es gibt drei Erklärungsansätze.

Erstens: Der Dichtestress in den Gefängnissen nimmt zu. Aktuell befinden sich knapp 7000 Personen im Freiheitsentzug. Das sind 15 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Mehr Insassen verüben natürlich mehr Delikte, was aber nur einen Teil des Anstiegs von 66 Prozent erklären kann. Gleichzeitig müssen sich mehr Häftlinge auf ungefähr gleich grosser Fläche aufhalten. So ist die Belegungsrate in Schweizer Gefängnissen in zehn Jahren von 92 auf 94 Prozent angestiegen.

Zweitens: Die Zusammensetzung der Insassen verändert sich. Nach dem Jugoslawienkrieg und nach dem Arabischen Frühling ist die Gewaltkurve ­jeweils angestiegen. Vor allem junge Männer, die Gewalt aus ihrer Heimat gewohnt sind, treten im Gefängnis aggressiv auf. Nordafrikaner zum Beispiel begehen überdurchschnittlich viele der gefängnisinternen Straftaten.

Drittens: Das Personal wurde dünnhäutiger. Beamte werden geschult, keine Aggressionen zu tolerieren und konsequent mit Strafanzeigen zu reagieren. Früher war die Hemmschwelle grösser, die Polizei einzuschalten. Gleichzeitig nimmt der Respekt gegenüber Autoritäten ab.