
Hausärzte-Präsident Bhend: Einen erneuten Lockdown darf es nicht geben
Viele Leute schauen praktisch täglich auf die COVID-19-Fallzahlen. Wer von einer Tätigkeit nicht mehr loskommt, ist eigentlich in gewissen Weise süchtig, oder zumindest abhängig. In letzter Zeit sind die Zahlen steigend, was zu Angst führen kann. Diese beiden Symptome (Fixiertheit und Angst) sind Nachwehen des Lockdowns, welcher seinerseits eine Reaktion auf den initialen Schock war. Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden meist als Erstes genannt. Es gibt noch viele weitere Nebenwirkungen. Vieles hat sich verändert und scheint teilweise unwiederbringlich verloren. Begriffe wie «neue Normalität» zementieren ein solches «Fehlverhalten». Distanz, Maskentragen, Angst oder sogar Panik, Verbot von Veranstaltungen, Auflagen für kulturelle Anlässe und weiteres mehr sind letztlich lebens- und damit auch menschenfeindlich. Lockdown hat zwei Aspekte, wie die beiden Wörter zeigen. «Lock» steht für geschlossen, eingeschlossen, gefangen; «down» für unten, am Boden, in der Tiefe. Beides sind nicht wirklich erstrebenswerte Ziele. Wenn wir unsere Kultur und Gesellschaft nicht nachhaltig aufs Spiel setzen wollen, darf es keinen Lockdown mehr geben. Die wirtschaftlichen Folgen kann man irgendwie und irgendwann bezahlen oder bezahlen lassen. Der nicht-wirtschaftliche Preis eines erneuten Lockdowns wäre meines Erachtens zu gross. Ich denke da vor allem an die Kinder, Senioren und weiteren Mitglieder unserer Gesellschaft ohne Lobbying, an gestörte soziale Beziehungsnetze, an unsere ganze, gelebte Kultur. Auch aus Angst unterlassene medizinische Behandlungen und deren Spätfolgen sind zusätzliche Nebenwirkungen des Lockdowns.
Welches Ziel hat die Corona-Strategie des Bundes?
Klar ausformuliert wurde dieses Ziel bisher nicht. Man kann die Absicht in etwa aus den Aktivitäten erahnen. Ganz zu Beginn hiess es noch «flatten the curve», also die Kurve abflachen, um die Spitäler nicht zu überlasten. Gesamtschweizerisch gesehen kamen die Spitäler nie zum Anschlag ihrer Kapazitäten, regionale Ausnahmen gab es. Aus dem Abflachen ist ein Abwürgen geworden. Man fühlte sich als Nation und Einzelner besser, wenn die Kurve und damit die Fallzahlen sehr tief waren. Spätestens mit den Lockerungen hätte man eine neue «Währung» einführen müssen: Anzahl Patienten auf der Intensivstation im Verhältnis zu vorhandenen IPS-Pflegeplätzen inkl. Betreuungspersonal. Dieser Index ist nur schwer zu finden und wird nicht automatisch kommuniziert. Man liest von Aktivitäten des Bundes betreffend Impfstoff-Kauf, respektive Impfstoff-Reservierung. Ist damit eine Strategie gemeint: «Ansteckung solange verhindern, bis die ganze Bevölkerung geimpft ist?» – Man könnte es meinen. Allerdings wäre eine solche Strategie sehr riskant und müsste mit einem Plan B und allenfalls Plan C hinterlegt werden. Ob und wann der Impfstoff kommt und ob er unbedenklich und langanhaltend wirksam sein wird, ist alles andere als gesichert. Aus dem Kollegenkreis höre ich Stimmen wie: «Ich würde mich nie impfen lassen». – Die Vorstellung, dass anfangs nächstes Jahr acht Millionen Einwohner innerhalb von ein paar Wochen geimpft werden, ist sicher eine Illusion. Wenn, dann wird es ein paar hunderttausend Dosen geben, welche über wenige Monate zur Anwendung kämen.
So weiter geht es auch nicht
Wir fühlen uns einigermassen sicher, wenn die Fallzahlen tief bleiben. Nach der Talsohle und dem erwarteten Wiederanstieg machten gewisse Schwellenwerte als magische Grenze nervös. Initial die Zahl 100, dann 200, schlussendlich 400 und nun 500 bestätigte Neuinfektionen. Offenbar gewöhnt man sich sogar an solch variable Schwellenwerte. Es wird erwartet, dass eine Herdenimmunität auftritt, wenn rund die Hälfte der Bevölkerung immun wäre. Man kann annehmen, dass eine durchgemachte Infektion hier helfen könnte. – Mit 500 Ansteckungen pro Tag wird es zirka 25 Jahre dauern, bis 4,5 Millionen Leute immun wären. Man stelle sich vor: Abstand halten, Masken tragen, keine Veranstaltung mehr ohne Schutzkonzept, Contact Tracing und Quarantäne für weiter 25 Jahre? – In meinem Alter wäre dies für den Rest meines Lebens. Eine Horrorvision. Aktuell fahren wir aber (unausgesprochen) diesen Kurs! Also haben wir ein Problem: So weiter geht nicht, Impfung abwarten ist unsicher, eventuell sogar illusorisch. Was dann?
Walk through anstatt Lockdown
Hindurchgehen, durchmarschieren. Der Begriff wird unter anderem bei der Schaufensterkrankheit (Durchblutungsstörung der Beine) angewendet. Wenn nach einer gewissen Gehstrecke Schmerzen auftreten hat man zwei Möglichkeiten: Anhalten (lock down) oder eben trotz Schmerzen weitermarschieren (walk through). Beim Weitermarschieren dauern die Schmerzen noch einen Moment an, verschwinden dann aber. In Analogie: wir müssen da durch. Das heisst erstens: Die Fallzahlen dürfen, ja müssen steigen. Und zweitens: Die Kurve soll nicht «durch die Decke». Aber es ist ein viel höheres Ansteckungsniveau zuzulassen, respektive sogar anzustreben. Dies wird zwangsläufig mehr Patienten mit Spitalsbedürftigkeit und mehr Tote zur Folge haben. – Leider ist es tragische Realität der ganzen Pandemie: Die Flächen unter der Kurve bezüglich Todesfälle nähern sich an. Eine hohe Anzahl Todesfälle in kurzer Zeit oder weniger über längere Zeit können in der Schlussbilanz die gleiche Anzahl Todesfälle ausweisen. Im März hatten wir eine Übersterblichkeit, das heisst deutlich mehr Todesfälle als «erwartet». Seither sind diese aber wieder im Normbereich, sogar eher an der unteren Grenze des Üblichen. Eine Impfaktion würde den Walk-Through-Ansatz ergänzen und beschleunigen.
Müdigkeit der Bevölkerung
Man stellt landesweit Ermüdungserscheinungen fest bezüglich Disziplin im Bereich der Corona-Massnahmen. Proteste und Demos sind nur die Spitze des Eisberges und sicher nicht zielführend. Es braucht weiterhin Solidarität und etwas weniger Egoismus. Dies könnte auch eine gelernte Lektion werden. Masken dienen vor allem zum Mahnen, zur Vorsicht. Gemäss Studien ist ihr Wirksamkeitsnachweis (Evidenz) niedrig oder höchstens mittelmässig. Als Medikamente würden Masken nicht zugelassen werden. Bei einer Walk-Through-Strategie müsste man immer weniger Masken sehen. Die Dauer der Quarantäne müsste neu justiert werden. Besser 99 Prozent halten sich an fünf Tage, als nur die Hälfte an zehn Tage. Auch in diesem Bereich ist weniger vielleicht mehr.
Individuelle Risikoabwägung und optimaler Schutz
Nun haben wohl alle im Land mitbekommen, dass diese Pandemie für jedes Individuum ein Risiko und eine Herausforderung ist. Das Risiko ist aber je nach Alter und Vorerkrankung völlig unterschiedlich. Wer tatsächlich gefährdeter ist, der darf, der soll sich optimal schützen. Einzelne Menschen könnten auch in völliger Freiheit entscheiden, auf eine allfällige Intensivbehandlung zu verzichten und dies in einer Patientenverfügung festhalten. Es gibt auch Personen, die gar kein erhöhtes Risiko haben, aber schlichtweg panische Angst. Auch sie sollen sich – wie es für sie stimmt – schützen. Bei Kindern oder anderen betreuungsabhängigen Personen müssten die Angehörigen entscheiden, welche Massnahmen für sie adäquat sind.
Was wir auch wissen (sollten): Angst und Panik sind schlechte Ratgeber. Respekt ist angebracht. Solidarität darf erwartet, kann aber nie eingefordert werden. Nachlassen der Disziplin ist ein sehr menschliches Phänomen. Damit müssen wir umgehen können. Eine Walk-Through-Strategie könnte wieder einen Motivationsschub auslösen. Die bisherigen Massnahmen waren meines Erachtens nicht falsch. Falsch wäre, sie wegen vordergründiger «Wirksamkeit» auf unbestimmte Zeit weiterzuführen. Die Wirksamkeit kann nicht anhand der nackten Fallzahlen abgelesen werden. Aktuell ist die COVID-19 mehr eine labormässige als eine klinische Pandemie. Eine Pandemie ist weit mehr als nur die Anzahl Neuansteckungen pro Tag. Ein initialer Lockdown war sinnvoll, nötig und richtig, um sich überhaupt orientieren zu können. Weitere Lockdowns würden das Problem nur hinausschieben. Israel wird dies spätestens nach dem dritten Lockdown ebenfalls einsehen. Walk through – aber nicht blindlings: Wenn die Belegung an COVID-19-bedingten Intensivbetten einen bestimmten Schwellenwert übersteigt, müssten weitere Massnahmen avisiert werden.
Dr. med. Heinz Bhend ist Präsident der Hausärzte Region Zofingen. Bhend hat bereits am 9. April dieses Jahres einen vielbeachteten Meinungsartikel zum Thema COVID-19 verfasst: «Ich wünsche Ihnen eine Corona-Infektion…»