Heidrich und Vergé-Dépré spielen um die Medaillen – Brasilianerin im Rollstuhl vom Platz gebracht, Totenstille in der Festhütte

Es ist andächtig still an diesem Dienstagmittag, die Japaner suchen in ihren Wohnungen und Büros Schutz vor der Luftfeuchtigkeit und der Hitze. Auch auf Odaiba, einer künstlichen Insel, die über die Regenbogen-Brücke mit dem Zentrum Tokios verbunden ist. Hier liegt auch der Shiokaze Park, eine idyllische Oase in der Hektik der Grossstadt. Am Wochenende ist er ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt, wo entspannt, gelesen, gespielt und grilliert wird. Doch dieser Tage herrscht Totenstille, zu hören ist nur das Surren mobiler Kühleinheiten, ab und zu fährt ein Bus vor, lädt Helfer und Journalisten aus. Ab und zu ertönt der Schrille Ton einer Trillerpfeife.

Es sind die Pfiffe der Polin Myszkowska Polagnieszka, die an diesem Tag eine Viertelfinal-Partie leitet. Denn im Shiokaze Park spielen derzeit die Beachvolleyballerinnen um die Medaillen bei den Olympischen Spielen. In und um Tokio sind bei den Wettkämpfen keine Zuschauer zugelassen, nur in einigen entfernten Präfekturen ist Publikum erlaubt, zum Beispiel bei den Mountainbike-Wettbewerben. Im Fussball spielten einige TV-Sender Zuschauerreaktionen wie Jubel und Applaus ein und sie nutzten moderne Technologien, um ein virtuelles Publikum einzublenden. Nicht in Tokio.

Der 12'000-Zuschauerkessel im Shiokaze Park bleibt praktisch leer.

Der 12’000-Zuschauerkessel im Shiokaze Park bleibt praktisch leer.

Felipe Dana / AP

Heidrich: «Beachvolleyball ist wie eine Party»

An das Bild leerer Stadien hat man sich längst gewöhnt, und bei vielen der Wettkämpfen dieser Sommerspiele in Tokio spielt Publikum ohnehin eine untergeordnete Rolle: im Triathlon, im Segeln, beim Rad oder im Rudern zum Beispiel tragen die Athletinnen den Grossteil ihrer Wettkämpfe mit sich selbst aus, nur an wenigen Streckenabschnitten und im Zielbereich gibt es Publikum. Natürlich fehlt dieses auch in der Leichtathletik, beim Schwimmen, im Handball und Basketball, auch beim Judo oder Fechten, und ganz generell bei allen Entscheidungen, die in einer Halle stattfinden.

Doch nirgendwo ist der Kontrast zur Normalität so himmelschreiend gross wie beim Beachvolleyball, der Sport, bei dem gefühlt immer gutes Wetter und immer gute Stimmung herrscht. Und diesmal? Keine Zuschauer, keine Festhütte, nur die gegenseitigen Anfeuerungsrufe der Spielerinnen, die Pfiffe der Schiedsrichterin, der Klang des Balls, wenn er gespielt wird, das Klatschen der Betreuer. Joana Heidrich sagt: «Beachvolleyball lebt extrem von den Zuschauern, darüber müssen wir gar nicht diskutieren. Es geht ab wie bei einer Party», sagt die Zürcherin, die 2016 in Rio de Janeiro erlebte, wie sehr das beflügeln kann, als sie mit Nadine Zumkehr Fünfte wurde.

Als erstes Schweizer Frauen-Duo stehen Vergé-Dépré und Heidrich bei Olympischen Spielen in den Halbfinals.

Als erstes Schweizer Frauen-Duo stehen Vergé-Dépré und Heidrich bei Olympischen Spielen in den Halbfinals.

Tatyana Zenkovich / EPA

Erstes Schweizer Frauen-Duo im Halbfinal

Seit 2017 spielt Heidrich mit Anouk Vergé-Dépré zusammen, im letzten Sommer wurden sie Europameisterinnen, in den Achtelfinals setzten sie sich im Schweizer Duell gegen das nominell stärkere Duo Nina Betschart und Tanja Hüberli durch und nun stehen sie – nach einem 21:19, 18:21, 15:12-Erfolg gegen die Ana Patricica/Rebeca aus Brasilien bereits in den Halbfinals vom Donnerstag, wo sie erstmals auf die Amerikanerinnen April Ross und Alix Klineman treffen. Sie spielen damit als erstes Schweizer Frauen-Duo und als erstes Gespann seit Athen 2004 um Olympia-Medaillen. Damals holten Patrick Heuscher und Stefan Kobel Bronze.

So sehr Joana Heidrich und Anouk Vergé-Dépré das Fehlen der Zuschauer in der temporären Arena bedauern, die 12’000 Plätze bietet, so wenig klagen sie. Heidrich sagt: «Wir haben nun unsere eigene Party auf dem Court, das hat den Unterschied gemacht. Wir blenden das aus und sagen uns: Das ist die Situation.» Und Vergé-Dépré sagt: «Als Athleten ist das etwas, das man vermisst, aber so ist es. Wir passen uns an. Wie an das Wetter.» Weil von den Rängen keine Unterstützung kommt, geben sie sich diese selber, sagt Heidrich. «Wir müssen die Energie, die ohne Publikum fehlt, selber auf den Platz bringen. Wir müssen uns die Atmosphäre selber schaffen», sagt Heidrich. «Und wenn es heiss ist, sind wir noch lauter.»

Den Brasilianerinnen setzt die Hitze in Tokio mehr zu als den Schweizerinnen, die sich speziell vorbereitet hatten.

Den Brasilianerinnen setzt die Hitze in Tokio mehr zu als den Schweizerinnen, die sich speziell vorbereitet hatten.

Tatyana Zenkovich / EPA

DJ und Speaker machen Stimmung – für wen?

Im Stadion selber blenden die Organisatoren den Fakt aus, dass die Spiele ohne Zuschauer stattfinden. Ein Discjockey spielt Musik ein, um für etwas Stimmung zu sorgen (bei wem?), die Stimme des Speakers überschlägt sich bei Ansagen. Als wolle man die Tristesse in der Festhütte ignorieren.

Als Vergé-Depré nach dem Halbfinal-Vorstoss Auskunft gibt, wird eine ihrer Gegenspielerinnen, die 1,94 Meter grosse Ana Patricia Ramos, in einem Rollstuhl aus dem Stadion gefahren und zur weiteren Abklärung an einen Arzt überwiesen, so sehr haben ihr Hitze und Anstrengung zugesetzt. Das Schweizer Duo hatte sich in mit Trainings in einer Hitzekammer auf die extremen Bedingungen vorbereitet. «Der Körper will eigentlich nicht Beachvolleyball spielen, man muss ihn dazu zwingen. Uns hat diese Erfahrung geholfen, um zu sehen, dass der Körper dann doch noch kann.»

So sah es am Montag aus, als Belinda Bencic, Nina Christen, Viktorija Golubic, Noè Ponti, Jérémy Desplanches und Nikita Ducarroz acht Olympia-Medaillen in die Schweiz brachten.

So sah es am Montag aus, als Belinda Bencic, Nina Christen, Viktorija Golubic, Noè Ponti, Jérémy Desplanches und Nikita Ducarroz acht Olympia-Medaillen in die Schweiz brachten.

Freshfocus

Als sich Heidrich und Vergé-Dépré in die Garderoben zurückziehen, werden sie vom Klatschen der Helfer, sie tragen Masken und Visiere, vereinzelt sogar Handschuhe, begleitet. Man ist hier wirklich darum bemüht, wenigstens ein bisschen Stimmung zu erzeugen.

Richtig laut und bunt könnte es am Freitag oder Samstag werden. Dann nämlich, wenn Joana Heidrich und Anouk Vergé-Dépré als Gewinner einer Olympia-Medaille aus Tokio in die Schweiz zurückkehren sollten.