
Heilerin und Künstlerin: Emma Kunz, die Ausnahmeerscheinung aus Brittnau

02.03.21 – 24.05.21, Aargauer Kunsthaus Aarau
Zu ihren Lebzeiten war Emma Kunz nicht bekannt. Heute zieren ihre Zeichnungen weltweit die Wände von Museen. Die Brittnauerin verstand sich aber nicht als Künstlerin. Im Jahr 1892 in Brittnau geboren, verbrachte sie ihr Leben als Heilpraktikerin. Kurt Buchmüller, ein Zeitzeuge, erinnert sich noch an sie. Er erzählt: «Sie war im Dorf weder beliebt noch unbeliebt. Nur wenige kannten sie jedoch näher. Einige gingen zu ihr, um sich heilen zu lassen, andere glaubten nicht an ihre Kräfte und mieden sie.» Buchmüller, der sich intensiv mit der Familiengeschichte befasst hat, sagt: «Emma wohnte mit zwei Schwestern in ärmlichen Verhältnissen. Ihr Geld verdiente sie durch Fabrikarbeit. Denn für ihre Heilpraxis durfte sie keine Bezahlung annehmen, höchstens Zuwendungen.» Buchmüller selbst besitzt ein Originalbild von Emma Kunz, das ihm die Familie Kunz geschenkt hat.
Kunz sagte laut Buchmüller über ihre Zeichnungen: «Mein Bildwerk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt.» Diese Prophezeiung ist Wirklichkeit geworden: Ihre Bilder wurden in den letzten Jahren mehrfach in verschiedenen Ländern ausgestellt. Aktuell zieren sie die Wände des Aargauer Kunsthauses. In der Ausstellung unter dem Titel «Kosmos Emma Kunz» sind 57 Zeichnungen von ihr zusammen mit Werken von 14 zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen. Deren Werke sind aktuell und inspiriert von Emma Kunz’ Leben und Schaffen. Eines davon stammt von der Genfer Künstlerin Mai-Thu Perret. Ausgehend von einer von Kunz’ Zeichnungen schuf sie eine Wandinstallation aus Neonröhren.
Sie zeichnete aufgrund der Fragestellungen ihrer Patienten
Kunz bezeichnete sich zeitlebens als Forscherin: Sie arbeitete schon früh mit einem Pendel. Dieses nutzte sie, um von inneren Impulsen und unsichtbaren Kräften geleitet über Millimeterpapier zu pendeln und gemäss den Schwingungen Punkte zu setzen. Aufgrund der Markierungen zeichnete sie dann mithilfe von Zirkel und Lineal geometrische Formen, und zwar mit Blei- und Farbstift. Die Zeichnungen produzierte sie aufgrund von Fragestellungen ihrer Patienten. Für Kunz waren ihre Zeichnungen keine Kunst, sondern Hilfsmittel für ihre Heiltätigkeit. Etwa 500 Zeichnungen entstanden so, zu denen Kunz keinerlei schriftliche Erklärungen hinterliess. Christina Omlin vom Aargauer Kunsthaus sagt: «Emma Kunz fertigte ihre Zeichnungen am Stück. Sie war stundenlang, manchmal sogar bis zu 24 Stunden durchgehend am Werk. Obwohl die meisten Bilder an den Ausstellungen an der Wand hängen, wurden sie auf Tischen gezeichnet, denn das Papier musste liegen, damit sie darüber pendeln konnte.» An der aktuellen Ausstellung im Aargauer Kunsthaus gibt es sogar eine acht Meter lange Zeichnung in einer Vitrine zu betrachten.
Obgleich Emma Kunz 1963 in Waldstatt verstorben war – wo sie ab 1951 gelebt hatte und legal als Heilpraktikerin wirken durfte –, dauerte es doch noch einige Jahre, bis ihre Bilder das Interesse der Öffentlichkeit zu wecken begannen. 1973 wurden ihre Werke zum ersten Mal ausgestellt. Die Ausstellung «Der Fall Emma Kunz» wurde vom damaligen Direktor des Aargauer Kunsthauses, Heiny Widmer, zusammengestellt. Kurt Buchmüller weiss, wie es dazu kam. «Anton C. Meier, der als Kind durch Emma Kunz von der Kinderlähmung geheilt wurde, erwarb das Bildwerk durch einen Tauschhandel von Otto Kunz, dem Neffen von Emma. Als Verwalter ihres Nachlasses trug er dazu bei, dass die erste Ausstellung organisiert werden konnte.» Seither wurde das Phänomen Emma Kunz von zahlreichen Kunstschaffenden, Kuratorinnen und Kuratoren entdeckt und schliesslich weltberühmt. In den letzten Jahren wurden die Bilder der Brittnauerin in Venedig, München, London, Tel Aviv oder Hongkong ausgestellt.
Nur wenige durften ihr beim Zeichnen zuschauen
Laut Buchmüller lebte sie zurückgezogen und liess sich selten bei der Arbeit zuschauen. Christina Omlin ergänzt: «Es ist bemerkenswert, dass Emma Kunz als Frau zu ihren Lebzeiten so eigenständig gelebt hat.» Was ist der Grund, weshalb man heute weiss, dass sie mit einem Pendel als Hilfsmittel ihre Zeichnungen geschaffen hat? «Die Frau des damaligen Gemeindeammanns von Brittnau, Charlotte Gugelmann-Mordasini, war eine gute Freundin von Emma Kunz. Sie hatte das Privileg, Emma manchmal beim Zeichnen zuschauen zu dürfen», weiss Buchmüller. Emma Kunz gilt als Ausnahmeerscheinung, als Phänomen, das laut Kunsthistorikern nur alle 500 Jahre vorkommt.