
Heimat, ein tief verwurzeltes Gefühl
Pfarrer Stuck und ein Team gestalten zweiten Gottesdienst, den das Schweizer Fernsehen live überträgt
Kriege, Gewalt und menschenverachtende politische Systeme treiben unzählige Menschen zur Flucht und dazu, sich eine neue Heimat suchen zu müssen. Doch was ist Heimat? Ein Ort oder ein Gefühl? Eine Nation oder eine Kindheitserinnerung? Um diese und weitere Fragen dreht sich der Fernsehgottesdienst aus der Stadtkirche in Zofingen. Vor der Liveausstrahlung diesen Sonntag traf sich Pfarrer Lukas Stuck mit den drei Frauen, die mit ihm den TV-Gottesdienst gestalten. Anita Steiner-Aregger aus Reiden ist Dirigentin des Jodlerklubs Edelweiss Zofingen, Layla Ibrahim und Tegsti Teklehaimanot mussten vor ein paar Jahren flüchten und leben nun in Zofingen.
Im Hinblick auf den TV-Auftritt schlägt der Puls unterschiedlich hoch. «Herzklopfen gehört wohl dazu», sagt Lukas Stuck lachend. Der Pfarrer hatte schon am Ostersonntag vor laufenden Kameras den ersten Fernsehgottesdienst gestaltet. Auch diesmal gilt es für den Berner, die Predigt in Hochdeutsch zu halten. Die Sprache, die Tegsti Teklehaimanot und Layla Ibrahim in der Schweiz innerhalb weniger Jahre erlernt haben und fliessend sprechen. «Die Sprache zu beherrschen, ist der Schlüssel zur Integration», betonen beide Frauen.
Tegsti Teklehaimanot musste in Eritrea Militärdienst leisten. Nach zwei Jahren machte sie sich auf und davon. «Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal mein Land verlassen muss», sagt die 30-Jährige. Seit sechs Jahren lebt sie mit ihrem Mann und den zwei Töchtern (5 und 3 Jahre) in Zofingen. Im Seniorenzentrum Brunnenhof arbeitet sie in der Pflege. Mit berechtigtem Stolz erzählt sie, dass sie sich im ersten Lehrjahr zur Fachangestellten Gesundheit befindet. «Die Arbeit mit den alten Menschen und die Möglichkeit, eine Ausbildung zu machen, bedeuten mir unendlich viel.»
Auch Layla Ibrahim aus Syrien ist eine engagierte, kämpferische Frau. In ihrem Heimatland war sie an der Universität von Aleppo und in einem Röntgeninstitut in der Administration tätig. In der Schweiz war eine Ausbildung oder ein Studium ihr Ziel. Seit einem Jahr macht sie den Master in Geografie an der Universität Bern. Sie erzählt vom zerstörten Aleppo, in dem ihre Geschwister noch leben. Geflüchtet ist sie vor vier Jahren mit ihrer Mutter, die in Suhr lebt. Die 43-Jährige lebt in der Zofinger Altstadt. Hier fühlt sie sich wohl und engagiert sich, wie Tegsti Teklehaimanot, in der reformierten Kirchgemeinde. Der christliche Glaube ist für beide ein starkes Fundament, das ihnen Kraft und Zuversicht schenkt. Durch ihr Engagement haben sie Pfarrer Lukas Stuck kennen gelernt.
Für den 30-Jährigen stand «Heimat» als Thema für den zweiten Live-TV-Gottesdienst schnell fest. «Heimat ist nicht etwas Gegebenes. Jeder Mensch empfindet diesen Begriff anders», ist Stuck überzeugt. Das spüren auch die Eritreerin und die Syrerin, denen die Familie, aber auch vertraute Geräusche, Düfte und ihre Sprache fehlen. «Die Gefühle sind anders, wenn man die Muttersprache spricht», sind sie sich einig. Anita Steiner-Aregger nickt zustimmend. Die Sekundarlehrerin dirigiert den Jodlerklub Edelweiss Zofingen, der am Sonntag zu hören sein wird (siehe Kasten). Mit ihrem Mann lebt sie in Reiden, wo sie mit ihren Geschwistern auf einem Bauernhof aufgewachsen ist. Fremde Länder ziehen sie nicht so an. Auswandern ist für sie kein Thema. «Schon der Wegzug aus Reiden wäre ein riesiger Schritt für mich. Hier leben meine Eltern und Grosseltern», sagt Anita Steiner-Aregger. Ihre freie Zeit verbringt sie am liebsten in den Bergen. Als Symbol für Heimat hat sie einen Wanderschuh mitgebracht. «Es gibt so viel Schö- nes hierzulande zu entdecken», betont die Marathonläuferin, die schätzt, dass sie ohne Angst täglich ihre Kilometer laufen kann.
Freiheit und Menschenrechte
Sich frei zu bewegen und die eigene Meinung kundzutun, schätzen auch Tegsti Teklehaimanot und Layla Ibrahim. Sie erzählen, wie besonders die Rechte der Frauen und der Menschen allgemein in Eritrea und Syrien beschnitten werden. «Dort sind die Männer die Chefs.» Die Erinnerungen sind schmerzvoll, aber auch voller Liebe. Tegsti Teklehaimanot zeigt ihr Heimatsymbol – Fotos, auf denen ihre Familie und Freunde am reich gedeckten Tisch zusammensitzen. «Ohne meine mir vertrauten Menschen fehlte mir anfangs die Sicherheit und Zuversicht.» Wiedergewonnen habe sie beides dank ihrem Mann, ihren Töchtern und neuen Freunden. Unterstützt und umarmt in der Schweiz fühlt sich Layla Ibrahim, die eine syrische Kaffeekanne aus Kupfer und Kaffeebohnen als Heimatsymbol dabei hat. «Bei uns gibt es zur Begrüssung und zum Abschied einen Kaffee.» Bevor es zum Niklaus-ThutBrunnen für das Foto geht, trinken alle den letzten Schluck Kaffee aus.
Lukas Stuck hat als Symbol das Willkommensschild «Bienvenidos» von seiner Bürotür im Kirchgemeindehaus mitgenommen. «Jeder Mensch hat eine eigene Geschichte. Deshalb ist es wichtig, sich willkommen zu fühlen», sagt er und fährt fort: «Heimat ist nicht nur ein Ort, sondern vielmehr ein tief verwurzeltes Gefühl.» Einig sind sich die vier, dass Heimat nicht an einen geografischen Ort gebunden ist, sondern dort ist und entsteht, wo Menschen einander dieses Gefühl geben können. «Immer und überall», wünscht sich das Quartett.