
Immer mehr Kinder sind kurzsichtig, es gibt eine Fülle von teuren Spezialbrillen – doch bei Ärzten sind diese umstritten
Die Ergebnisse einer Megastudie mit über 100’000 Kindern schrecken auf: Im Pandemiejahr 2020 haben chinesische Kinder im Durchschnitt 0,3 Dioptrien an Sehkraft verloren. Sie sehen immer schlechter in die Weite, werden also schon im jungen Alter kurzsichtig. Damit verschärft sich ein Trend, der auch in Europa seit längerem ein Problem darstellt. In Deutschland ist laut dem Verband der deutschen Augenärzte einer von vier Menschen betroffen.
Als Ursache sehen Fachleute vor allem die Bildungsgesellschaft. Die Menschen lesen mehr und halten sich häufiger in Innenräumen auf. Während der Pandemie hat sich diese Tendenz noch verstärkt, was die Kurzsichtigkeit gleich auf zwei Weisen begünstigt. Erstens mangelt es an Tageslicht im Auge. Es werden weniger Hormone ausgeschüttet, der Augapfel wächst bei einem Mangel in die Länge. Dadurch stimmen die Proportionen nicht mehr und ins Auge fallende Lichtstrahlen ergeben auf der Netzhaut kein scharfes Bild.
Zweitens müssen Kinderaugen heute mehr Aufgaben erledigen, bei denen Objekte in der Nähe scharfgestellt werden, zum Beispiel auf ein Handy starren oder Hausaufgaben lösen. So wird nur das In-die-Nähe-Schauen trainiert, und die Fähigkeit, weit entfernte Gegenstände scharfzustellen, verkümmert.

Blaulichtfilter bringen keinen Schutz
Nun bieten Optikgeschäfte neue Spezialbrillen an, welche Kurzsichtigkeit verhindern sollen. Die Angebote sind aber oft nicht wissenschaftlich abgestützt, oder sie teilen die Fachwelt in Befürworter und Gegner. Das Paradebeispiel dafür sind Brillen mit Blaulichtfilterbeschichtung, von denen es lange hiess, sie könnten ein wirksames Mittel gegen die Kurzsichtigkeitsepidemie sein.
Die These wurde aufgestellt, nachdem französische Wissenschafter in einer Tierstudie zeigen konnten, dass sehr helles Blaulicht von Handys mehrere Augenkrankheiten fördert. Das erschien logisch, denn rein physikalisch ist blaues Licht im sichtbaren Spektrum das energiereichste.
Doch die meisten Augenärzte vertreten heute eine andere Ansicht. Mathias Abegg, Leitender Arzt für Kinderaugenheilkunde am Berner Inselspital, erklärt:
«Tageslicht hat eine Blaulichtintensität, die um ein Mehrfaches höher ist als diejenige eines Bildschirms. Das menschliche Auge ist also von Natur aus dafür gebaut, sogar noch grössere Mengen an Blaulicht auszuhalten.»

Mathias Abegg
Professor für Kinderaugenheilkunde am Inselspital Bern
Der Professor ist darum überzeugt, dass das Bildschirmlicht fürs Auge ungefährlich ist.
Die Bildschirm-Hypothese steht auch in der Kritik, weil die Zunahme von Kurzsichtigkeit schon lange vor dem Aufkommen von Smartphones begonnen hat. Ausserdem existieren keine Untersuchungen am Menschen, welche die Schädlichkeit von blauem Bildschirmlicht eindeutig belegen konnten.
Gesichert ist nur, dass es einen weckenden Einfluss auf den Tag-Wach-Rhythmus hat und so unserem Schlaf schaden kann.

Unabhängige Studien fehlen bei neuer Brille
Einen noch neueren Ansatz verfolgen Medizintechnikfirmen mit sogenannten Myopischen Defokus-Brillen. Zum Beispiel die Miyosmart-Brille einer japanischen Firma, die verspricht, das Fortschreiten von Kurzsichtigkeit um durchschnittlich 60 Prozent zu verlangsamen.
Das Spezielle an der Brille, die seit April in der Schweiz verfügbar ist, sind defokussierende Teilflächen um die Mitte der Gläser. Einfallende Strahlen werden so abgelenkt, dass fast alle im Auge an den richtigen Ort fallen, wo sie trotz zu langen Augapfels optimal scharf gestellt werden können. Der Vorteil gegenüber normalen Brillen ist, dass nicht nur ein kleiner Punkt in der Ferne scharfgestellt werden kann, sondern auch ein Teil des nicht-fokussierten Bereichs (siehe Grafik).

«Das technologische Konzept hinter der Brille ist sinnvoll und vielversprechend», sagt Mathias Abegg vom Inselspital. «Doch bisher ist unklar, ob die Brille tatsächlich auch Kurzsichtigkeit aufhält und nicht nur Symptome mildert wie herkömmliche Brillen.» Denn es gebe noch keine unabhängigen Studien, welche dies beweisen. Die von vielen Optikern beworbenen 60 Prozent Reduktion von Kurzsichtigkeit sind Werte aus einer chinesischen Studie, die von Miyosmart-Hersteller Hoya finanziert wurde.
Zumindest für Eltern ein Problem ist zudem der hohe Preis. Die Brille kostet bei den meisten Optikern um die 600 Franken, die Krankenkassen bezahlen Kindern aber nur Brillen für 180 Franken pro Jahr. Die Differenz müssen Eltern selbst tragen.
Hersteller Hoya ist sich dessen bewusst und versucht, die Kassen in die Pflicht zu nehmen: «Wir arbeiten mit den entsprechenden Stellen für eine höhere Übernahme, da die Folgekosten bei Nichtbehandlung massiv höher sind. Aktuell ist dies aber noch Work in Progress», sagt Samuel Schaub, Geschäftsführer von Hoya in der Schweiz. Ohne unabhängige Studien dürfte das aber schwierig werden.
Momentan sieht es auch nicht danach aus, als würden die Schweizer Augenärztinnen und Augenärzte sich im Sinne der Brillenhersteller positionieren. In einem Grundsatzpapier schreibt der Berufsverband:
«Die Wirksamkeit der neuen speziellen Brillen ist ungenügend nachgewiesen, und sie können deshalb nicht allgemein empfohlen werden.»
Die Mediziner raten stattdessen zu drei Präventionsmassnahmen: Kinder sollen täglich mindestens zwei Stunden draussen verbringen. Sie sollen beim Lesen alle 30 Minuten eine Pause machen und die Augen kurz in die Ferne abwenden. Und wenn möglich eine Armlänge Distanz vom Auge zum Handy oder Buch einhalten.
Brillen werden nur empfohlen, wenn Kinder bereits an einer leichten Kurzsichtigkeit leiden. Um die Kurzsichtigkeit zu stoppen, gibt es andere Methoden. Oberärztin Muriel Dysli vom Kantonsspital Aarau erklärt: «Zum Verhindern einer weiteren Progression ist gemäss aktueller Studienlage die Atropin-Augentropfen-Therapie am effektivsten. Dabei werden Tröpfchen einmal pro Tag am Abend in beide Augen getropft, was das Fortschreiten der Krankheit verlangsamt.»
Der genaue Wirkungsmechanismus von Atropin ist unbekannt, der Wirkstoff aus der Tollkirsche wird in Europa aber schon seit Jahrhunderten zur Behandlung von Augenkrankheiten eingesetzt. Anfänglich noch umstritten wegen möglicher Nebenwirkungen, haben sich die Tröpfchen heute als neuer Goldstandard etabliert. Denn es wurde nachgewiesen, dass sie auch in extrem niedrigen Dosen noch wirken. Dann sogar ohne Nebenwirkungen.
Wie erkenne ich Kurzsichtigkeit bei Kindern?
Oft fällt die Sehschwäche erst spät auf. Für die Behandlung ist es aber von Vorteil, wenn schon möglichst früh gehandelt wird. Erste Warnzeichen für Kurzsichtigkeit können sein:
– Zusammengekniffene Augen beim in die Ferne schauen.
– Die Kinder sitzen sehr nahe am Fernseher.
– Plötzlicher Leistungsabfall in der Schule.
– Kopfschmerzen nach Kinobesuch.
– Typisch: Schulmyopie nach der Einschulung; kommt zustande durch plötzliche grosse Nahesehtätigkeit und Lesearbeit.