In den Städten und bei Postauto kehren die Pendler in den ÖV zurück, aber die Züge der SBB leeren sich – woran liegt das?

Die Ratschläge der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) an die Adresse der Pendlerinnen und Pendler sind immer schwieriger einzuhalten: «Volle Fahrzeuge auslassen», heisst es auf Plakaten an Fenstern von Bussen und Trams. «In wenigen Minuten kommt schon das Nächste.» Nur: Das nächste ist dann wohl auch voll. Einen Bus oder ein Tram mit freien Plätzen zu finden, wird wieder schwieriger.

Das zeigt eine Auswertung der Daten einer Zählstelle der VBZ an der Haltestelle Hardbrücke. Dort verkehren drei Buslinien und ein Tram. Der Trend ist eindeutig: Die Zahlen zeigen steil nach oben. Am 9. September wurden knapp 77’000 Fahrgäste gezählt, der höchste Wert seit Ende 2019 und damit noch vor dem Ausbruch der Krise. Im Durchschnitt der letzten 7 Tage wurden per Mitte dieser Woche so viele Fahrgäste gezählt wie seit März 2020 nicht mehr.

 

Die Veränderungen an dieser Haltestelle dienen den VBZ als Referenzwert für das gesamte Netz – und haben eine Aussagekraft weit über Zürich hinaus. Mit knapp 225 Millionen Fahrgästen im Coronajahr 2020 sind die VBZ nach den SBB die grösste Anbieterin von öffentlichem Verkehr in der Schweiz.

«Seit Anfang August 2021 nehmen die Fahrgastzahlen kontinuierlich zu», sagt VBZ-Sprecher Tobias Wälti. Seit Ende August liege das Fahrgastaufkommen im Vergleich zu den Werten vor der Coronapandemie bei über 80 Prozent. In der vergangenen Woche wurde gar ein Aufkommen von 89 Prozent gemessen. «Ob das ein Ausreisser ist, lässt sich noch nicht sagen», betont Wälti. «Der Trend zu mehr Fahrgästen setzt sich damit allerdings fort.» Die Mobilität in der Stadt Zürich nehme tendenziell zu.

Erholung schon Ende 2022?

Auch in der Bundesstadt sind die Fahrgastzahlen «leicht ansteigend», wie Bernmobil-Sprecher Rolf Meyer sagt. In der vergangenen Woche lag die Auslastung im Vergleich zur Vorkrisenzeit bei 85 Prozent. Das entspricht den Erwartungen der Berner Verkehrsbetriebe: Bernmobil habe als Folge der Lockerungsmassnahmen damit gerechnet, dass die Leute insbesondere im städtischen Raum wieder vermehrt unterwegs seien, sagt Meyer. Bernmobil hoffe, bis Ende Jahr einen Stand von rund 90 Prozent zu erreichen und eine vollständige Erholung bis Ende 2022.

Vom Aufwärtstrend nicht profitieren können die SBB – im Gegenteil. Zuletzt nahm die Auslastung im Vergleich zu 2019 sogar wieder ab. In der Kalenderwoche 37 vom 13. bis 19. September lag die Auslastung im Regionalverkehr im Vergleich zur selben Woche von 2019 bei 66,29 Prozent, der tiefste Wert seit Ende Mai. Im Fernverkehr waren die Züge zu 68,18 Prozent ausgelastet – der tiefste Wert seit sechs Wochen.

Auslastung der SBB

Während sich also die Busse und Trams in Städten wieder füllen, weisen die Züge viele leere Plätze aus. Erklärungsansätze für diese auf den ersten Blick widersprüchlichen Tendenzen gibt es viele. Sie reichen vom kulturellen Leben, das in den Städten wieder Fahrt aufnimmt über eine höhere Impfquote, die mit mehr Restaurant-, Kino- oder Konzertbesuchen der lokalen Bevölkerung einhergeht, bis hin zum Semesterstart der Hochschulen mit der Wiedereinführung von Präsenzunterricht und dem kälter werdenden Wetter, bei dem viele ihr Velo in die Garage stellen und auf Bus und Tram umsteigen.

Allerdings steigen die Passagierzahlen auch bei der auf dem Land verankerten Postauto an. Im September transportiere Postauto mehr Fahrgäste als im August, sagt Sprecherin Katharina Merkle. «Die Aufhebung der Homeofficepflicht und die Rückkehr der Hochschulen zum Präsenzunterricht wirken sich positiv aus», sagt sie. «Für diesen Herbst rechnen wir mit einer gewissen Erholung gegenüber 2020, ohne die Zahlen von 2019 zu erreichen.» Über das ganze Jahr hindurch dürfte der Rückgang bei Postauto etwa 20 Prozent gegenüber 2019 betragen – und damit wohl deutlich weniger als bei den SBB.

Warum schneidet Bahn schlechter ab?

Als mögliche Erklärung für diese Differenz zwischen den SBB und anderen Betrieben wäre denkbar, dass die Bahn stärker darunter leidet, dass Meetings vermehrt virtuell abgehalten werden – ein Segment, das etwa auf Strecken wie Zürich und Bern wichtig ist für die SBB. Auch das weiterhin weit verbreitete Homeoffice könnte die Bahn stärker treffen als andere Verkehrsbetriebe.

Die SBB selber haben ebenfalls keine abschliessende Erklärung. Vor der Krise, im Jahr 2019, stieg die Auslastung von Anfang August bis Mitte September stetig und deutlich an, bevor sie wieder zurückging – ein eigentlich übliches Muster im Jahresverlauf. Nicht so dieses Jahr: «2021 stellen wir bereits seit Anfang September einen leichten Rückgang fest», sagt Sprecher Reto Schärli.

Welchen Einfluss hat die Maskenpflicht?

«In Kombination mit dem Anstieg in den entsprechenden Wochen im 2019 führt das bei der Vergleichszahl nach Kalenderwoche zu einem deutlichen Rückgang gegenüber 2019», sagt Schärli. Wie geht es nun weiter? «Wir schätzen, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis sich die Passagierzahlen vollständig erholt haben», sagt er. Eine genauere Prognose wagt die Bahn nicht.

Wie schnell die Passagierzahlen in Bahn, Bus und Tram wieder auf dem Vorkrisenniveau sind, dürfte hauptsächlich vom weiteren Verlauf der Pandemie und den geltenden Massnahmen abhängen. Bernmobil-Sprecher Rolf Meyer geht zudem davon aus, dass die Auslastung nochmals steigen wird, sollte die Maskenpflicht im ÖV dereinst aufgehoben werden. «Das grösste Potenzial bei den Fahrgastzahlen besteht aktuell bei den Pendlerinnen und Pendlern», sagt Meyer. «Wir beobachten nach wie vor, dass die Morgenspitze am meisten hinter dem Vor-Corona-Stand hinterherhinkt. Wir gehen davon aus, dass hier die Homeoffice-Empfehlung wesentlichen Einfluss hat.»

Ebenfalls entscheidend für die Auslastung in der Zukunft sind laut Postauto zudem die Etablierung neuer, virtueller Arbeits- und Eventformen, die Rückkehr ausländischer Touristen, das Wetter und die Frage, wie oft die hiesige Bevölkerung im Ausland Ferien machen.