
«Integration kann man nicht kaufen» – SVP-Nationalrätin Bircher führt den Kampf der Gemeinden an
Bei den Gemeinden sorgen neue Pläne des Staatssekretariats für Migration (SEM) für Unmut. Es möchte künftig nur noch fünf statt sieben Jahre lang Geld für die Sozialhilfe von vorläufig aufgenommenen Personen beisteuern – gleich lang wie für anerkannte Flüchtlinge. Voraussichtlich im nächsten Frühjahr wird der Bundesrat einen Entscheid fällen. «Mit diesen Massnahmen verlagert der Bund das finanzielle Risiko der Nichtintegration schon früher auf die Kantone und Gemeinden», sagt Christoph Niederberger. Der Direktor des Schweizerischen Gemeindeverbands will das Vorhaben des Bundes auf politischer Ebene bekämpfen. Auch die Städte lehnen die verkürzte Dauer ab, wie Nicolas Galladé (SP), Sozialvorsteher der Stadt Winterthur und Präsident der Städteinitiative Sozialpolitik, sagt.
Der Bund entrichtet den Kantonen pro anerkanntem Flüchtling (1500 Franken) und pro vorläufig aufgenommener Personen (1550 Franken) einen Beitrag an die Sozialhilfekosten, die sogenannte Globalpauschale. Die Gemeinden können den Kantonen die Sozialhilfe-Kosten für die Personen im Asylbereich so lange in Rechnung stellen, wie der Bund für die Globalpauschale aufkommt.
Bund verspricht sich Anreiz für rasche Integration
Das SEM sieht in seinem Vorhaben keinen Leistungsabbau. Es will die Neuerung nämlich kostenneutral umsetzen, wie Sprecher Lukas Rieder auf Anfrage sagt. Das bedeutet: Die Kantone erhalten gleich viel Geld wie bisher, aber verteilt auf fünf anstatt sieben Jahre. «Dadurch soll ein Anreiz für eine rasche und nachhaltige Integration geschaffen werden», sagt Rieder. Die Kantone erhielten früher die nötigen finanziellen Mittel, um auch im Rahmen der Sozialhilfe vermehrt situationsbedingte Leistungen im integrativen Bereich zu finanzieren. Das SEM erhofft sich durch die Änderung eine tiefere Sozialhilfeabhängigkeit von Personen im Asylbereich.
Aktuell werden 87 Prozent der vorläufig aufgenommenen Personen und 83,1 Prozent der anerkannten Flüchtlinge von der Sozialhilfe unterstützt. Die Erwerbsquote beträgt nach sieben Jahren Anwesenheit in der Schweiz 52,9 respektive 43,3 Prozent. Auch dank einer neuen Integrationsagenda sollen diese Werte verbessert werden. Zu diesem Zweck hat der Bund die Integrationspauschale an die Kantone auf 18’000 Franken verdreifacht. Dank Sprachkursen, individueller Förderung und vertieften Potenzialabklärungen soll die Hälfte aller erwachsenen Personen aus dem Asylbereich sieben Jahre nach Einreise nachhaltig in den ersten Arbeitsmarkt integriert sein.
Christoph Niederberger vom Gemeindeverband hält diese Zielvorgaben für sehr ambitioniert. «Mehr Geld bedeutet nicht automatisch eine tiefere Sozialhilfeabhängigkeit», sagt er. Die siebenjährige Globalpauschale sei eine Art Rückversicherung für die Gemeinden, falls die Integration in den ersten fünf Jahre misslinge. Nicolas Galladé weist darauf hin, dass die Integrationspauschale erst 2019 erhöht worden sei und die kantonalen Integrationskonzepte erst nächstes Jahr in Kraft treten. «Wir sollten diese zuerst einmal gut implementieren und Erfahrungen sammeln, bevor man schon wieder neue konzeptionelle Änderungen vornimmt.»
Auch Nationalrätin Martina Bircher (SVP/AG) kündigt Widerstand an. «Mit der Erhöhung der Integrationspauschale wollte der Bund die Gemeinden im Zuge der Flüchtlingskrise besänftigen. Dass er zwei Jahre später durch die Hintertüre versucht, die Dauer der Globalpauschale zu kürzen, ist ein Affront», sagt die Sozialvorsteherin von Aarburg. Damit lasse er die Gemeinden im Regen stehen. Bircher schlägt in einem Vorstoss, den sie in der abgelaufenen Session eingereicht hat, eine ganz andere Lösung vor.
Sie verlangt, dass der Bund für den Asylbereich den Kantonen während mindestens zehn Jahren Globalpauschalen für die Sozialhilfe zahlt. «Integration kann man nicht kaufen. Mehr Geld bedeutet nicht automatisch eine höhere Erwerbsquote», sagt sie mit Blick auf die Integrationsagenda. Und die verkürzte Dauer bei der Globalpauschale werde vor allem die Gemeinden treffen, weil sie von der Erhöhung der Integrationspauschale nicht direkt und finanziell höchstens potenziell profitierten.
SVP-Nationalrätin fordert längere Bundesbeteiligung
Bircher befürchtet, dass die Coronakrise den Personen aus dem Asylbereich den Einstieg in den Arbeitsmarkt zusätzlich erschwert. «Viele Flüchtlinge und vorläufig aufgenommene Personen sind bildungsfern und hätten – wenn überhaupt – Chancen, in Berufen mit tiefem Qualifikationsprofil zu arbeiten.» Mit der sich abzeichnenden Rezession werde sich der Verdrängungskampf in diesen Branchen noch verschärfen. Bircher sieht den Bund auch aus staatspolitischer Sicht in der Pflicht: Er sei zuständig für die Asylpolitik und trage deshalb auch eine finanzielle Verantwortung.
Die Gemeinden blicken mit Sorge auf das Jahr 2022. Zum einen müssen sie dann die vollen Sozialhilfekosten von Personen im Asylbereich, die im Zuge der Flüchtlingskrise 2015 einreisten, zahlen. Zum anderen drohen wegen der Coronakrise vermehrt Langzeitarbeitslose in der Sozialhilfe zu landen.
Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe rechnet im pessimistischsten Szenario mit 100’000 zusätzlichen Sozialhilfebezügern – und 1,36 Milliarden Franken Mehrausgaben.