
Irène Kälin über Rausschmiss wegen Baby: «Das ist absolut nicht zeitgemäss»
Tumult in Basel: Grossrätin Lea Steinle (Grüne) ist von Grossratspräsident Remo Gallacchi (CVP) am Mittwochnachmittag aus dem Saal geworfen worden, weil sie ihr Kind im Tragetuch mitgenommen hatte, um abzustimmen — ihre Pflicht als gewählte Politikerin. «Wir Parlamentarier sind hier im Saal grundsätzlich unter uns», so Gallacchis Begründung dafür, warum das Bébé nicht willkommen war. Dennoch liess er Steinle nach einer kurzen emotionalen Debatte unter den Parlamentariern wieder herein.
Bei der Aargauer Nationalrätin Irène Kälin (Grüne) kamen am Mittwoch Erinnerungen hoch. Auf sie prallten im September Vorwürfe und Unverständnis aus der Bevölkerung entgegen, als sie mit ihrem fünf Monate alten Sohn im Nationalratssaal sass. Sie ist über den Rausschmiss von Steinle empört. «Das ist absolut nicht zeitgemäss und zeigt, dass die Schweiz familienpolitisch ein Entwicklungsland ist», sagt sie. «Es scheint für viele noch immer keine Selbstverständlichkeit zu sein, dass Frauen in einem gewissen Lebensabschnitt auch Mütter sein können und stillen und deswegen ihr Kind bei sich haben», sagt sie.
Keine Regeln im Grossen Rat
Zu einer Szene wie in Basel ist es im Aargauer Grossen Rat bisher nicht gekommen, Bébés waren im Ratssaal aber bereits mehrfach anwesend. Unter anderem jenes der grünen Grossrätin Kim Schweri im September 2017. In der ersten Zeit nach der Geburt hat Schweri nicht an den Grossratssitzungen teilgenommen. Bei einem für sie besonders wichtigen Geschäft hat sie die Debatte aber mit ihrem Sohn im Tragetuch von der Zuschauertribüne aus verfolgt. Als es zur Abstimmung kam, hat der Kleine geschlafen. Anstatt ihn aufzuwecken und vielleicht sogar zum Weinen zu bringen, hat sie sich entschieden, ihn mit in den Saal zu nehmen. «Ich hatte keine negativen Rückmeldungen und kann mir nicht vorstellen, dass sich jemand gestört gefühlt hat», sagt Schweri. Hätte ihr Sohn durch Weinen den Ratsbetrieb beeinträchtigt, wäre es für sie aber selbstverständlich gewesen, den Saal zu verlassen.
Für Grossratspräsident Bernhard Scholl (FDP) ist das die richtige Überlegung. «Die Frage ist immer, ob etwas den Ratsbetrieb stört», sagt er. Ein schlafendes Kleinkind tue das nicht, ein sehr unruhiges vielleicht aber schon — so wie etwa mangelnder Anstand zwischen den Parlamentariern und Lärm im Saal. «Ich vertraue darauf, dass die Parlamentarier selber einschätzen können, was angebracht ist», sagt Scholl. Regeln bezüglich Babys im Saal gebe es nicht und seien auch nicht erwünscht.
Ausfälle schaden den Fraktionen
Im Grossen Rat hat es in den letzten Monaten in fast allen Fraktionen Nachwuchs gegeben. Für SVP-Grossrätin Martina Bircher hat sich die Frage nicht gestellt, ob sie ihr inzwischen vier Monate altes Söhnchen mit in den Grossen Rat nehmen soll, der Kleine verbringt den Dienstag seit Anfang November in der Kita. Bircher hat aber bereits acht Wochen nach der Geburt wieder an den Sitzungen teilgenommen. Das konnte und wollte sie, weil sie ihr Kind nur kurze Zeit gestillt hat und sie sich bereit fühlte. Sie hätte auch keinen Anspruch auf Entschädigung gehabt, denn Politikerinnen haben keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub.
Erst zwei Monate alt ist die Tochter von SVP-Grossrätin Tanja Primault. Auch sie wird ihr Kind nicht mit in den Grossratssaal nehmen. «Das wäre ungeschickt und würde vom Wesentlichen ablenken», sagt sie. Für die ersten drei Monate bleibt sie dem Rat fern, nimmt also auch nicht an der Budget-Debatte teil. «Als gewählte Politikerin würde ich das zwar gerne tun, aber ich nehme mir jetzt diese Zeit», so Primault.
Vorstoss für Stellvertretersystem
Allein in der SVP-Fraktion sind in den letzten eineinhalb Jahren drei Politikerinnen teilweise ausgefallen, weil sie Mutter geworden sind. «Das kann für die Fraktionen schwierig werden, denn diese Stimmen fehlen ihnen bei Abstimmungen», sagt Kim Schweri. Sie befürchte, dass unter diesem Aspekt Parteien zögern, junge Frauen zu nominieren. Schweri plant, demnächst einen Vorstoss für ein Absenzenreglement mit Stellvertretersystem einzureichen, sodass die Parteien keine Stimmen verlieren. «Das wäre ein erster, hilfreicher Schritt für Mütter, dann fühlen sie sich nicht verpflichtet, auch mit Kind an den Sitzungen teilzunehmen», sagt sie. Sobald ein Stellvertretersystem vorhanden ist, könnte man auch einen Mutterschaftsurlaub einführen. «Ein Stellvertretersystem ist sicher eine Überlegung wert», sagt auch Martina Bircher. Sie findet es inkonsequent, junge Frauen für die Politik zu fördern, ihnen aber bei der Mutterschaft nicht entgegenzukommen.
Kim Schweri zeigt sich optimistisch: Gerade weil derzeit so viele junge Frauen aus dem ganzen Parteienspektrum im Grossen Rat sitzen, merkten vielleicht bald alle, dass Anpassungen dringend nötig seien.